Eine wunderbare Dichtigkeit des geistigen Daseins gestattete jedem
seine Gaben in Genuß und Tat nach allen Seiten hin harmonisch
zu entfalten; und es entsprach nur den wirklichen Zuständen, wenn
die schöne Geselligkeit sich besser dünkte als der geistlose Staat,
wenn die Briefe Schillers und Goethes immer wieder die Sorge
aussprachen, daß nur der Staat ja nicht „die Freiheit des Parti—
kuliers“ antaste. Wie diese Künstlerwelt sich zum Staate stellte,
das zeigte Wilhelm Humboldt vornehm und geistvoll in seiner
Abhandlung über die Grenzen der Wirksamkeit des Staates: der
höchste Zweck des Lebens, die Erziehung des Menschen zur Eigen—
tümlichkeit der Kraft und Bildung, wird nur erreicht, wenn der
einzelne in Freiheit und in mannigfaltigen Situationen sich bewegt;
darum muß die Zwangsanstalt des Staates auf die Sicherung
von Hab' und Leben sich beschränken, in allem sonst den könig—
lichen Menschen frei schalten lassen; der Staat steht um so höher,
je reicher und selbständiger sich die Eigenart der Personen in ihm
gestalten darf. So wurde die Kantische Lehre vom Rechtsstaate
im ästhetischen Sinne weiter gebildet; die dürre Doktrin des natur—
rechtlichen Individualismus gewann Reiz und Leben seit sie mit dem
Kultus der freien Persönlichkeit sich vermählte. Die Bewunderer
des klassischen Altertums predigten die Flucht vor dem Staate,
das genaue Gegenteil hellenischer Tugend.
Bald genug sollte ein furchtbares Erwachen dem seligen Traume
folgen; bald genug sollte der Bildungsstolz erfahren, daß für edle
Völker eines noch schrecklicher ist als das Banausentum: — die
Schande. Dennoch trifft die Heroen der deutschen Dichtung in
keiner Weise der Vorwurf, als ob sie irgendeine Mitschuld trügen
an der Demütigung ihres Vaterlandes. Der Zerfall des alten
deutschen Staates war entschieden; die Teilnahme unserer Dichter
an den politischen Ereignissen der Zeit konnte das Verhängnis
nicht wenden, konnte nur sie selber dem Ewigen entfremden. Sie
hüteten das Eigenste unseres Volkes, das heilige Feuer des Idea-
lismus, und ihnen vornehmlich danken wir, daß es noch immer
ein Deutschland gab, als das deutsche Reich verschwunden war,
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