Full text: Auswahl für das Feld.

sie auf Augenblicke gestört; der Jünger der modernen Philosophen 
faßt sie auf als ein ewiges Werden. Er liebt den Zusammen— 
stoß zweier Kulturwelten zu schildern: wie das Hellenentum aus 
der orientalischen Gebundenheit emporsteigt, das Christentum aus 
der jüdischen Welt, die neue Zeit aus dem Mittelalter. Ich kann 
jedoch nicht finden, daß der Dichter bei diesem kühnen Unterfangen 
immer glücklich ist. Die neue Welt, die aus der zerfallenden alten 
Ordnung sich erhebt, tritt nicht leibhaftig vor uns hin, sie wird 
uns lediglich angedeutet durch einen symbolischen Zug; und nur 
weil wir historische Schulbildung besitzen, erraten wir, was uns 
das Kunstwerk selber nicht sagt, daß die heiligen drei Könige, die 
am Schlusse von „Herodes und Mariamne“ plötzlich auftreten, 
den Anbruch der christlichen Gesittung vorstellen sollen. Diese Nei— 
gung für symbolische Züge beherrscht den Dichter zuweilen so gänzlich, 
daß er in eine gleichgültige, ja absurde Fabel willkürlich eine Idee 
hineinlegt, welche ihr völlig fremd ist. Und da ja ausschweifende 
Phantastik im Innersten verwandt ist mit den Verirrungen über— 
feinen Verstandes, so erinnert Hebbel mit solcher Symbolik, solchem 
Mystizismus oft stark an Calderon. 
In der Einsamkeit brütender Betrachtung mußte die düstere Denk— 
weise vom Leben, wozu Hebbels Natur neigte, zu erschreckender 
Stärke anwachsen. Der Pessimismus ist insgemein eine Sünde 
begabter Menschen, denn nur ein heller Kopf wird die tiefen 
Widersprüche des Lebens, wird die schreckliche Tatsache, daß die 
Ordnung des Rechts eine andere ist als die Ordnung der Sitt— 
lichkeit, in ihrer ganzen Schärfe durchschauen, nur ein tiefes Gemüt 
sie in ihrer vollen Schwere empfinden. Kein Wunder, daß diese, 
die Werke aller bedeutenden tragischen Dichter überschattende, re— 
formatorische Strenge, welche die Welt verachtet und Lügen straft, 
von dem Haufen verketzert und als unsittlich gebrandmarkt wird. 
Aber selbst ein tiefmelancholisches Gedicht wird dem Poeten nur 
dann gelingen, wenn ihm, ob auch verhüllt und verborgen, tief 
in der Seele der Glaube lebt an den Sieg des Geistes über die 
Gebrechen der Welt. Noch keinem echten Dichter hat dieser Glaube 
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