Doch wir erkennen in ihr unser eigenes Gefühl nicht wieder; rein
unbegreiflich erscheint in dieser gebundenen Welt die ganz moderne
Empfindung des Versuchers Golo. Die Handlung ist ein gehäuftes
Maß von Schrecknissen — denn bei Hebbel erscheint der Tod stets
als die gräßliche Kere, nimmer als milder Genius — die Diktion
bietet einen jähen Wechsel von Frost und Hitze; der letzte Eindruck ist
vollkommene Ermüdung und die ratlose Frage, ob die wirre Symbo-
lik dieser Szenen wirklich eine Tragödie der ehelichen Treue vorstellt?
Verdankte die Judith ihren Erfolg vor allem ihrer Wahlver-
wandtschaft mit gewissen krankhaften Verstimmungen der Zeit, und
hatte die Genoveva als ein Verstandeswerk gar nur das Staunen
eingeweihter Literatenkreise erregt, so fand die Maria Magdalena
den verdienten Beifall aller Unbefangenen, ein wahrhaft poetisches
Werk, das über seiner klaren und strengen Komposition und über der
ergreifenden Wahrheit seiner Charaktere alle seine Mängel leicht ver-
gessen läßt. Hebbel war kühn genug, aus der Not eine Tugend
zu machen, die „schreckliche Gebundenheit in der Einseitigkeit" —
jene Klippe, an der die meisten bürgerlichen Dramen und Dorf-
geschichten scheitern — zum Mittelpunkte des tragischen Konflikts
zu erheben. Die Hohlheit kleinbürgerlicher Ehrbegriffe mit ihren
schrecklichen Folgen soll dargestellt werden. Zu solcher Arbeit ist
Hebbels große dialektische Kraft wie geschaffen. Auch das Ein-
gehen auf Sitten und Zustände, welche dem Poeten genau bekannt
waren, ist ihm zum Heile ausgeschlagen. Nicht als meinten wir
mit den Verehrern photographischer Wahrheit, der Künstler solle
nur Verhältnisse schildern, die ihm durch persönliche Erfahrung ver-
traut geworden; wer das Zeug hat zu einem Dichter, trägt ein
Bild der Menschheit im Herzen. Hebbel jedoch mußte durch einen
Stoff, dessen feste Schranken ihm selbst wie den Lesern wohlbekannt
sind, von seiner Unart, symbolische Züge in die Aktion zu legen,
abgehalten werden. Er bewährt hier seinen Ausspruch: „überall soll
der Dichter ökonomisch sein, nur nicht in seinen Grundmotiven“.
Der Bau des Dramas ist musterhaft knapp und gedrungen, auch
die Naturlaute der Leidenschaft erklingen tief erschütternd, das Stück
19 H. v. Treitschke, Feldausgabe. 280