das Volk sich die Freiheit seiner persönlichen Bildung niemals hat
rauben lassen, so ruht in seinen Tiefen ein ungehobener Schatz
starker nachhaltiger Leidenschaft, den dann und wann ein einsich—
tiger Fremder, ein Capodistrias, eine Frau von Staël, bewun—
dernd erkannte. Was deutsche Leidenschaft bedeute, das wird
jeder begreifen, der deutsche Dichtungen mit romanischen oder eng—
lischen aus der Zeit nach der Puritanerherrschaft vergleichen will:
sie hat sich noch an allen Wendepunkten unserer Geschichte glor-
reich bewährt.
Das ist der Segen der persönlichen Freiheit. Und glaube kei-
ner, daß das freie wissenschaftliche Schaffen der Deutschen den
bestehenden Staatsgewalten als ein willkommener Bilitzableiter
diene. Jeder geistige Erwerb, dessen ein Volk sich rühmen darf,
wirkt hinüber auf das staatliche Leben, ist ein Unterpfand mehr
für seine politische Größe. Jederzeit wird unter selbstgefälligen
Fachgelehrten die Rede gehen, die Wissenschaft habe nichts zu
schaffen mit dem Staate: die echten Größen der Wissenschaft denken
anders. Man lese die Briefe von Gottfried Hermann und Lo-
beck. Unwiderstehlich werden die beiden großen Philologen, beide
durchaus unpolitische Naturen, in den Kampf um die politische
Freiheit hineingezogen; wie tapfer streiten sie bald mit attischem
Witze, bald mit mutigem Zornwort, bald mit entschlossener Tat
gegen die tenebriones! Die Welt ringt nach Freiheit, und es
bleibt in alle Wege unmöglich, auf dem einen Gebiete dem Lichte
zu dienen, auf dem anderen der Finsternis. Vor wenigen Jahr-
zehnten noch bildeten die Männer der klassischen Gelehrsamkeit un-
zweifelhaft die geistige Aristokratie unseres Volkes. Dies Ver-
hältnis beginnt sich zu ändern, denn wenn auch für wahrhaft vor-
nehme Naturen die klassische Bildung eine unersetzlich segensreiche
Schule bleibt, so steht doch der gemeine Durchschnitt der studierten
Leute heute den Kaufleuten, den Technikern weit nach: der ge-
bildete Gewerbtreibende beherrscht in der Regel einen weiteren
Horizont, er ist unabhängiger in seinem Denken, und ihn beseelt
das stolze Bewußtsein, der Zivilisation eine Gasse zu brechen,
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