geschrieben, wie unendlich mühsam die Ideen der Toleranz dem
unduldsamen Staate und der noch unduldsameren Macht ge-
schlossener Kirchen abgerungen werden mußten. Auch in der Ge—
sellschaft lebt noch weit mehr Unduldsamkeit und — was desselben
Dinges Kehrseite ist — weit mehr religiöse Feigheit, als dem
Volke Herders und Lessings geziemt. Wer irgendeinen Begriff
davon hat, in welcher ungeheuren Ausdehnung der Glaube an
die Dogmen der christlichen Offenbarung dem jüngeren Geschlechte
geschwunden ist, der kann nur mit schwerer Sorge beobachten,
wie gedankenlos, wie träge, ja wie verlogen Tausende einem
Lippenglauben huldigen, der ihren Herzen fremd geworden. Nur
die wenigsten haben nachgedacht über die grobe Unwahrheit der
juristischen Fiktion, in welcher Staat und Kirche bei uns dahin-
leben, der Annahme: jeder bekennt sich zu dem Glauben, worin
er geboren ist. Wie jedes staatliche Ubel die Sitten der Bürger
berührt, so hat auch die lange unselige Gewohnheit, vor dem
Staate zu schweigen und sich zu beugen, entsittlichend eingewirkt
auf das religiöse Verhalten des Volkes. Die Furcht vor einer
streng gläubigen Behörde, ja die Furcht vor dem Nasenrümpfen
der sogenannten guten Gesellschaft reicht hin, Unzählige zum Ver-
leugnen ihres Glaubens zu bewegen. In den vornehmen Klassen
ist man stillschweigend übereingekommen, gewisse hochwichtige reli-
giöse Fragen nie zu berühren, und so träumen der Gebildeten
viele dahin, welche mit Absicht den Kreis ihrer Gedanken ver-
engern, sich grundsätzlich ihres Rechtes begeben, über religiöse
Dinge zu denken. In erschreckender Stärke wuchert auf dem reli-
giösen Gebiete der Geist der Unwahrhaftigkeit. Geheime Wort-
erklärungen, Mentalreservationen allerart zwingt man dem wider-
strebenden Denken auf; damit gepanzert, geht man hin, teilzunehmen
an kirchlichen Gebräuchen, deren eigentlichen Sinn man verwirft.
Ganze Richtungen der Theologie, mächtige Zweige des vulgären
Rationalismus hängen mit diesem Triebe zusammen: man leugnet
die Dogmen der Offenbarung, aber man leiht den alten Worten
einen fremden Sinn, statt mannhaft dem Widerwillen der trägen
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