verhängnisvolle Frage, wie es denn mit jenen heiligen Schriften
stehe, welche von den Reformatoren als eine Offenbarung aner—
kannt wurden. Wer tiefer blickt, wird trotzdem auf eine Versöh—
nung hoffen. Sie ist möglich, aber nicht auf kirchlichem Boden.
Schon heute ist von dem unvergänglichen Kerne des Christen-
tums bei den Weltlichen mehr zu finden als in der Kirche. Die
christliche Liebe vornehmlich lebt unter den vielgescholtenen Un-
gläubigen häufiger als unter den Geistlichen. An dem großen
Werke der jüngsten hundert Jahre, an der Befreiung des Menschen
von tausend Schranken unchristlicher Willkür, hat die Kirche gar
keinen Anteil genommen. Die Verteidiger der Kirche beanspruchen
das Vorrecht, auch die beste Sache durch die unvergleichbare Ge-
meinheit ihrer Verteidigungsmittel zu verderben. Und diese Er-
scheinung wird nach menschlichem Ermessen fortdauern. Mehr und
mehr wird der sittliche Gehalt des Christentumes von weltlichen
Händen ergründet und ausgebildet werden, und mehr und mehr
wird sich herausstellen, daß geschlossene Kirchen den geistigen Be-
dürfnissen reifer Völker nicht genügen.
So besteht außerhalb der Kirche ein hochwichtiges, tiefbewegtes
religiöses Leben, welches voraussichtlich nie zu einer neuen Kirche
sich zusammenschließen wird. Und weil von den fortschreitenden
regsamen Geistern, welche allein Bewegung bringen in das geistige
Leben, eine große Zahl die Hallen der Kirchen nicht mehr betritt,
ebendeshalb treibt in der Kirche die gedankenlose Trägheit, die
beschränkte Unduldsamkeit ein so arges Wesen, ebendeshalb gehen
Staat und Kirche dahin in dem behaglichen Wahne, daß unser
Volk noch immer aus lauter gläubigen Katholiken, Protestanten,
Juden bestehe. Eine lange Frist mag noch verfließen, bis die
humane Auffassung der Religion so allgemein und unwiderstehlich
geworden, daß die Fiktion, der sittliche Mensch müsse einer Kirche
angehören, aus unseren Gesetzen verbannt werden kann. Bis
dahin bleibt uns noch ein unermeßliches Feld der Arbeit offen,
des Kampfes gegen die unduldsame Herrschaft der Gesellschaft
und gegen die theokratischen Uberlieferungen der Staaten, auf daß
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