endlich die persönliche Freiheit des Menschen zu ihrem unveräußer-
lichen Rechte gelange.
Die völlige Ungebundenheit, welche hier für die religiösen An-
schauungen gefordert ward, ist nicht minder unerläßlich für alle
anderen menschlichen Meinungen als solche. Denn unter jeder,
politischen oder sozialen, Unterdrückung des Denkens leidet nicht
bloß der einzelne von dem Banne der Gesellschaft Betroffene,
sondern das gesamte Menschengeschlecht. Eine entscheidende Ge-
walt steht der Mehrheit der Gesellschaft überhaupt nur da zu, wo
der Drang der Not einen Entschluß, eine Tat verlangt, also in
allen politischen Geschäften. Die Wahrheit aber darf sich Zeit
nehmen auf ihrem erhabenen Gange, sie dient nicht dem Augen-
blicke: darum unterliegt sie nicht dem Belieben der Gesellschaft.
Keine Kunst der Rede hat je vermocht, den ketzerrichterlichen Geist
zu bemänteln, der aus der Behauptung redet, die Gesellschaft
habe das Recht, zwar nicht die Wahrheit, wohl aber die Gefähr-
lichkeit der Meinungen zu prüfen. Ist einmal der Staat den
rohen Formen der Theokratie, der Massen-Aristokratie entwachsen,
hat er einmal die persönliche Freiheit des Bürgers im Grund-
satze anerkannt, so hilft kein Sträuben mehr, so muß er auch ganz
und mit allen Folgerungen das Recht des freien Denkens ge-
währen, das den Menschen erst zum Menschen macht. Denn bei
der grenzenlosen Macht der Trägheit in der Welt ist die Gefahr,
daß eine vor der Zeit verkündete Wahrheit die Ruhe der Gesell-
schaft störe, verschwindend klein gegen die andere Gefahr, daß auch
nur ein wahrer Gedanke infolge von Gewalt wieder verschwinde.
Wir prahlen so gern mit dem reißend schnellen Fortschreiten der
Gesittung. Dies Lob ist berechtigt, wenn wir die Gegenwart mit
anderen Epochen vergleichen. Wer aber die Menschengeschichte im
ganzen überschlägt, kommt zu der schwermütigen Betrachtung, wie
schwer das Leben ist, wie unendlich langsam die Welt vorwärts-
schreitet. Schaut sie an, die hessische Bäuerin, wie sie dahingeht
im selbstgewebten Linnenkleide, ihr Kind auf den Rücken gebunden,
das Haar auf dem Wirbel in einen Knoten geflochten. Wie
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