gottlob weniger als in England) sittliche Fragen von höchster Be—
deutung, über denen „der tiefe Schlummer einer fertigen Meinung“
— das will sagen: einer verblaßten, gehaltlosen, leblosen Meinung
— brütet, welche die gute Gesellschaft niemanden laut besprechen
läßt. Hat aber einmal die schleichende Macht der sozialen Unduld—
samkeit Boden gewonnen, so erweitert sich unter der Hand der
Kreis der Dinge, worüber nicht mehr geredet wird! — Solange
Menschen leben, werden jene kühnen Denker nicht aussterben, deren
bitteres Los es ist, daß ihre Lehren derweil sie leben verkannt,
bald nach ihrem Tode trivial gescholten werden. Vor dem einen
aber kann und soll die reifende Gesittung der Menschheit ihre bahn—
brechenden Geister bewahren: vor der Schmach, daß als Gottes—
lästerer und unsittliche Menschen geschmäht werden, die von der
Lust des Denkens nicht lassen wollen.
Wie leicht läßt sie sich aufstellen, wie unwiderleglich verteidigen,
diese Forderung einer vollkommenen Duldsamkeit der Gesellschaft
gegen jegliche Meinung, und doch wie unendlich schwer ist sie durch—
zuführen! Die Besten gerade sind ihre Gegner. Denn jedes Wirken
eines starken Mannes ist seiner Natur nach einseitig, ist undenkbar
ohne rechtschaffenen Haß und tiefen Ekel. Und wir am wenigsten
wollen jene windelweichen Narren verherrlichen, welche heutzutage
nur allzuoft einem ehrlichen Manne mit dem haut-goüt ihrer
Bildung die Luft verpesten, welche vor lauter Duldung gegen
fremde Ansichten nie zu einer eigenen Meinung, vor lauter An—
erkennung fremden Rechtes nie zu entschlossener Tat gelangen.
Aber es ist eine höchste Blüte feiner und dennoch kräftiger Bildung
möglich, welche mit dem raschen Mute der Tat die überlegene
Milde des Historikers verbindet. Es ist möglich, festzustehen und
um sich zu schlagen in dem schweren Kampfe der Männer, und
dennoch das Geschehende wie ein Geschehenes zu betrachten, jede
Erscheinung der Zeit in ihrer Notwendigkeit zu begreifen und mit
liebevollem Bicke auch unter der wunderlichsten Hülle der Torheit
das liebe, traute Menschenangesicht aufzusuchen. Diese zugleich
tätige und betrachtende Stimmung des Geistes, welche in jedem
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