Full text: Auswahl für das Feld.

Augenblicke reif und bereit ist, abzuschließen mit dem Leben, soll 
einem geistreichen Volke immer als ein Ideal vor Augen stehen. 
Inzwischen wird menschliche Leidenschaft und Beschränktheit dafür 
sorgen, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen. 
So gelangen wir von selbst zu der letzten und höchsten Forde— 
rung der persönlichen Freiheit: daß der Staat und die öffentliche 
Meinung dem einzelnen die Ausbildung eines eigenartigen Cha— 
rakters im Denken und Handeln gestatten müsse. Längst ward in 
Deutschland ein Gemeingut aller, was Mill seinen Landsleuten 
als ein Neues verkündigt, jene Humboldtsche Lehre von der „Eigen— 
tümlichkeit der Kraft und der Bildung“, von der „höchsten und 
verhältnismäßigen Ausbildung aller Kräfte“, welche durch Freiheit 
und Mannigfaltigkeit der Situationen gedeiht, jene einzige Ver— 
bindung platonischen Schönheitssinnes und kantischer Sittenstrenge, 
welche den Höhepunkt des Zeitalters der deutschen Humanität be— 
zeichnet. Aber da diese Lehre, welche ihrer Natur nach nur von 
vornehmen Geistern begriffen werden kann, bereits von den mittel— 
mäßigsten der mittelmäßigen Köpfe gepredigt wird, so hat sie un— 
merklich sehr vieles von ihrem großen Sinne verloren. Man strebt 
nach einem gewissen Durchschnittsmaße vielseitiger Bildung und 
verliert darüber das Köstlichste, die Eigentümlichkeit der Bildung; 
man bemüht sich, seine Neigungen auf ein Mittelmaß des An— 
ständigen, des „Menschlichen“ herabzustimmen, und vergißt dar— 
über, welche herrliche Gabe starke, aber durch ein reges Gewissen 
gezügelte Leidenschaften sind. 
Jede gereifte Sittlichkeit beginnt mit ehrlicher Selbsterkenntnis. 
So gewiß es aber verkrüppelte Leiber gibt, so gewiß gibt es Seelen, 
welche dieses oder jenes Organes gänzlich entbehren. Und Heil 
jedem, der dies bescheiden zu erkennen weiß, Heil jenen starken 
einseitigen Naturen, welche willig an der Breite ihrer Bildung 
opfern, was sie an Kraft und Tiefe tausend fältig wiedergewinnen! 
Das sind doch Menschen, welche den Haß oder die Liebe ge- 
bieterisch herausfordern. Mag ihr Sinn immerhin verschlossen 
bleiben für manches große Gut der Menschheit, sie sind doch har- 
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