242 200. Sokrates, der Weiseste Griechenlands.
200. Sokrates, der Weiseste Griechenlands.
Sokrates war der Weiseste unter den Griechen.
Sein Vater war Bildhauer, und er selbst trieb eine Zeit
lang diese Kunst; doch seine liebste Beschäftigung war
es, Tünglinge zu unterrichten. Sokrates lebte äufserst
mälsig; er als und trank nur das Allergewöhnlichste,
trug einen Mantel von gewöhnlichem Zeuge, ging immer
barfuls und konnte ohne Beschwerden Nächte durch-
wachen. Sein Grundsatz war: Nichts bedürfen ist gött-
lich, und am wenigsten bedürfen nähert der Gottheit
am meisten.
Hatte er sich durch Laufen, Ringen und andere
Leibesübungen erhitzt, und kam er dann an einen Brunnen,
50 trank er nicht sogleich, sondern füllte mehrmals einen
Eimer und goss ihn langsam wieder aus, theils um seiner
Gesundheit nicht zu schaden, theils um sich in der Be-
herrschung der Begierden zu üben.
Einst grülste er auf der Stralse einen vornehmen
Bürger, der ihm nicht dankte, sondern stolz vorüber-
ging. Die jungen Freunde des Weisen waren darüber
unwillig. „Nicht doch,“ sagte Sokrates, „ihr würdet
ja nicht zürnen, wenn mir einer begegnete, der hässlicher
wäre als ich. Warum ereifert ihr euch also, dass dieser
Mensch minder höflich ist als ich!“
Es war vorauszusehen, dass sich Sokrates durch
seine Weisheit und Tugend bei der Mehrzahl seiner
verdorbenen Mitbürger, deren Sittenlosigkeit er mit
Worten strafte, Hass und Neid zuziehen musste. Sie
verleumdeten ihn also, verklagten ihn öffentlich, er glaube
hicht an die Götter der Vaterstadt, und die ungerechten
Richter verurtheilten ihn zum Tode. Sckrates hörte
sein Todesurtheil mit der grölsten Ruhe. Er ver-ich
allen, die ihn verurtheilt hatten, und freute sich, bald
zu den Geistern der edlen Männer aus der Vorzeit
hinüber zu wandeln. Dann wurde er ins Gefängniss
geführt. Seine Schüler hatten den Wärter bestochen,
dass er die Thüre des Kerkers offen lielse, damit ihr ge-
liebter Lehrer sich durch die Flucht retten könnte; er
aber wies ihren Vorschlag zurück und trank heiter den
ihm dargereichten Giftbecher (399 v. Chr.).