Full text: Deutsches Lesebuch. Zweiter Theil. Realienbuch. (2)

322 267. Beginn der Reformation. 
äußerlich zu ihr, um sich den Zorn der mächtigen Priesterschaft 
nicht zuzuziehen; andere waren in Unglauben versunken und 
spotteten des Heiligen. 
Ein großer Mißbrauch; den die Priesterschaft damals dul- 
dete, und der zugleich die Wurzel vieler anderer Mißbräuche 
wurde, war der Ablaßhandel. Es war schon in uralter Zeit 
Sitte, daß dem, der sich gegen kirchliche Ordnungen und Ge- 
setze vergangen hatte, und durch Büßungen — z. B. Wall- 
serten. besonders nach Rom, Jerusalem 2c., Hersagen von 
Pfalmen und Gebeten, Beisteuern zur Erbauung von Kirchen, 
Klöstern und Heiligenhäuschen — die Schuld abtrug, Ablaß 
(d. h. Vergebung) ertheilt wurde. Als man aber anfing, die 
kirchlichen Satzungen den göttlichen Geboten gleich zu stellen, 
wurde jener kirchliche Ablaß als die göttliche Vergebung der 
Sünden angesehen. So bildete sich nach und nach die Meinung, 
daß man sich durch äußere Werke die Gnade des Richters er- 
werben könne, der nur das Herz ansieht. 
Papst Leo X., ein Freund der schönen Künste, schrieb 
einen allgemeinen Ablaß aus, um die prachtvolle Peterskirche 
zu Rom ausbauen zu können. Den Verkauf der Ablaßzettel 
in Deutschland übernahm für die Hälfte des Ertrages desselben 
der Erzbischof von Mainz. Er sandte nach Sachsen den Domini- 
kanermönch Johann Tetel aus Leipzig. Derselbe wurde in 
allen Ortschaften als des Papstes Gesandter feierlichst empfangen. 
Vor dem Altare stellte er einen großen Geldkasten auf, der die 
Inschrift trug: 
„Sobald das Geld im Kasten klingt, 
Die Seele aus dem Fegfeuer springt.“ 
Er pflegte zu sagen: „Der Ablaß ist die höchste Gabe Gottes; 
das rothe Kreuz des Papstes vermag so viel, als das Kreuz 
Christi; ich, Tetzel, habe mit dem Ablaß weit mehr Seelen er- 
rettet, als Petrus mit seiner Predigt, und mag mit ihm im 
Himmel nicht theilen.“ Jede, sogar eine voch zu begehende 
Sünde konnte gegen Erlegung einer gewissen Geldsumme erlassen 
werden. In Folge dessen wurden die Beichtstühle leer, und wer 
noch kam, besaß schon einen Ablaßzettel und glaubte deshalb 
der Buße nicht zu bedürfen, um vor Gott bestehen zu können. 
Als der Ablaßkrämer auch in Jüterbogk, unweit Wittenberg, 
seinen schnöden Unfug trieb, erhob sich Martin Luther 
gegen diesen heillosen Mißbrauch. Da Predigten und Ermah- 
nungen nichts fruchteten, schlug er am Vorabende des Aller- 
heiligenfestes, am 31. Oktober 1517, an die Thür der Schloß- 
kirche zu Wittenberg 95 Sätze (Thesen) in lateinischer Sprache 
an, und lud die Gelehrten ein, auf Grund der hl. Schrift mit 
ihm zu disputiren. Der erste Satz lautete: „Unser Heir Jesus 
Christus will, daß das ganze Leben seiner Gläubigen auf Erden
	        
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