Full text: Deutsches Lesebuch. Zweiter Theil. Realienbuch. (2)

83. Der Storch. 83 
begrüfst; die Kinder jubeln ihm freudig entgegen, und die Alten 
heilsen ihn willkommen als den lieben Genossen ihrer Jugend. 
Hoch auf Dächern und Giebeln ragt sein gewaltiges Nest: 
denn eines Hochsitzes bedarf er, um sich frei umschauen zu 
können in dem Reviere seiner Wiesen, Walder und Sümpfe. 
Er ist ein wundersamer Vogel. 
Sieh seine Gestalt an! Auf dem hohen Stelzfuls wiegt 
er den stattlichen Leib; sein Kleid ist weils und schwarz 
gesäumt, der Schwanz kurz, der Hals schlank; weithin streckt er 
seinen Schnabel. Steif und feierlich sind Gang und Haltung. 
Schweigend und stolz schreitet er durch Sümpfe und Wiesen; 
mit jedem Schritte hebt er gemessen den langen Fuls auf, 
während Kopf und Hals beständig vornüber nicken. Gewahrt 
er einen fetten zappelnden Frosch, so schnellt er seinen spitzen 
Schnabel vorwärts und fängt den Unglücklichen, um ihn in 
der Tiefe seines Kropfschlundes zu begraben. Geräuschlos ist 
seine Jagd. Stöfst ihm etwas Ungewöhnliches auf, so steht 
er plötzlich still, hebt das eine Bein auf und umklammert mit 
den Zehen desselben das andere. Der Hals reckt sich forschend 
in die Höhe. So bleibt er regungslos minutenlang stehen, bis 
er sich überzeugt, dass er ungefährdet weiterziehen kann, oder 
dass weise Vorsicht die Flucht gebietet. Der mächtige Körper 
hat Mühe, sich zu erheben. Der Storch macht ein paar Sprünge; 
einige schwere Flügelschläge erfolgen; der Fuls streckt sich 
nach hinten, und die Masse hebt sich kaum über den Boden. 
Da mit einem Ruck hebt er sich auf, und nun zeigt er seinen 
schönen Flug. Oft schwimmt er lange Strecken ohne Stols 
und Schlag dahin, um endlich zu seinem Neste niederzufliegen, 
wo ihn die hungernde Brut in klappernder Sprache freudig 
begrülst. 
Zuweilen kommt es vor, dass der Storch sein Nest 
vertheidigen muss; denn in den Grenzen seines Gebietes 
erscheint ein anderer Storch. Der Storch im Neste hat ihn 
von weitem erblickt, duckt sich und richtet zischend seinen 
Schnabelspiels empor; zugleich schwingt er die Flügel zum 
zerschmetternden Hiebe. Der Kampf beginnt. Beide Störche 
bohren sich die Schnäbel in Hals und Brust; wüthend 
schwingen sie sich auf, und die Flügel prasseln krachend nieder. 
Wildes Geklapper erfüllt die Luft. Ein tiefer Stich ver- 
wundet den einen, und die Kämpfer verschwinden in der 
Weite. Noch ein paar Streiche schwirren durch die Luft; 
noch einmal fahren die Schnäbel zusammen und der Gegner 
stürzt zu Boden. Dast Nest ist gesichert. — Sonst ist der 
Storch ein duldsames Thier; er lasst es ruhig geschehen, dass 
Schwalben und Sperlinge sich unter dem Reisiggewölbe seines 
Nestes ansiedeln. Er ist auch ein reinlicher Vogel; er badet
	        
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