X. Die Gegenwart. 123
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sollen aber der Eigentümlichkeit des Landes befondere Rechnung
tragen. Das Volk wählt seine Abgeordneten in den Reichstag und
die Fürsten die ihrigen in den Bundesrat.“ Die Abgeordneten haben
die Pflicht, bei der Beratung der Gesetzesvorschläge die Wünsche ihrer
Wähler zu Ausdruck und Geltung zu bringen. Jeder Staatsbürger
kann seinem Abgeordneten Wünsche in Bezug auf die Gesetzgebung
unterbreiten, und jede gesetzgebende Körperschaft hat das Recht, Ge-
setzesvorschläge zu machen. Jede Gesetzesvorlage wird in der Regel
dreimal durchberaten und dann entweder ohne weiteres augenommen,
umgeändert oder ganz abgelehnt. Der Kaiser bestätigt die Vorlage,
dann wird sie im Gesetzblatte und gewöhnlich auch in den Zeitungen
als neues Gesetz bekannt gemacht, damit sich jedermann danach richten
kann, da Unkenntnis des Gesetzes nicht vor Strafe schützt. So hat also
wieder, wie vor alter Zeit, jeder deutsche Staatsbürger seinen Anteil
an der Rechtspflege und Verwaltung des Reiches, wenn er denselben
auch nicht mehr wie damals direkt ausüben kann.
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122. Kaiser Wilhelm ll.
1. Unser jetziger Kaiser, Wilhelm II., ist am 27. Januar 1859
als ältester Sohn des damaligen Prinzen Friedrich Wilhelm von
Preußen geboren. In fröhlichem Spiele hat er, wie andere Kinder,
seine erste Jugend verlebt; denn wenn auch Krieg und Kriegsgeschrei
in dieselbe fiel, so wurde sie doch dadurch nicht getrübt. Die Anfänge
der Wissenschaften und Künste hat der Kaiser im elterlichen Hause bei
besondern Lehrern erlernt; dann zog er mit seinem Bruder Heinrich nach
Kassel, um Schüler des Gymnasiums zu werden; später besuchte er die
Universität Bonn. Während und nach dieser Zeit der geistigen Aus-
bildung wurde Prinz Wilhelm als künftiger Deutscher Kaiser durch
höhere Offiziere im Dienste der Waffen geübt und durch höhere Ver-
waltungsbeamte mit der Regierung bekannt gemacht. Im zweiund-
zwanzigsten Jahre verheiratete er sich mit Auguste Viktoria. der Tochter
eines Prinzen von Schleswig-Holstein. Der glücklichen Ehe sind sechs
Prinzen und eine Prinzessin entsprossen.
2. Am 15. Juni 1888, nach dem Tode feines Vaters, hat Kaiser
Wilhelm II. den Thron feiner Bäter bestiegen; es geschah mit folgen-
den Worten: „Auf den Thron meiner Bäter berufen, habe ich die
Regierung im Aufblicke zu dem König aller Könige übernommen und
Gott gelobt, nach dem Beispiele meiner Väter meinem Volke ein ge-
rechter und milder Fürst zu sein, Frömmigkeit und Gottesfurcht zu
pflegen, den Frieden zu schirmen, die Wohlfahrt des Landes zu för-
dern, den Armen und Bedrängten ein Helfer, dem Reiche ein treuer
Wächter zu sein"“ Dieses Versprechen hat der Kaiser in deutscher
Treue erfüllt; denn das altdeutsche Wort: „Recht muß doch
Recht bleiben", ist ihm ein lieber Wahlspruch geworden. Der Höchste
wie der Geringste im Reiche erhält von ihm sein Recht, habe er Lob