168 Vierter Abschnitt: Allgemeine Funktionen der Staatsgewalt. I. Kapitel. § 71.
bildungsschule. Ebenso ist nach dem Verwaltungsgesetze vom 5. Oktober 1863 den Organen
der Kreisverbände (z. B. hinsichtlich der Organisation und der Ordnung der Kreisanstalten)
und der Bezirksverbände die Befugniß zur statutarischen Regelung bestimmter zur Zu-
ständigkeit dieser kommunalen Körper gehörigen Materien eingeräumt. Aehnlich sind auch
nach dem Staatskirchengesetze vom 9. Okt. 1860 die historischen Kirchengemeinschaften als
befugt erklärt, ihre inneren Angelegenheiten durch Verordnungen selbständig zu regeln,
vorbehaltlich der staatlichen Genehmigung für diejenigen Bestimmungen, welche in bürger-
liche oder staatsbürgerliche Verhältnisse eingreifen.
Eine dritte Art der statutarischen Vorschriften sind endlich die hausgesetzlichen Be-
stimmungen, welche die Häupter der standesherrlichen und der vormals reichsunmittelbaren
Familien über ihre Güter und Familienverhältnisse autonom erlassen dürfen (s. o. 55 11 u. 12).
Hinsichtlich des Verhältnisses dieser verschiedenen Rechtsquellen gilt der im § 24 des
Pol. Str.G.B. aufgestellte Grundsatz, daß keine Verordnung mit Gesetzen, keine statutarische
Vorschrift mit Gesetzen oder mit gesetzmäßig erlassenen Verordnungen und Vorschriften
einer höheren Behörde in Widerspruch treten darf. Um bei statutarischen Vorschriften das
Auftreten eines solchen Widerspruches von vorneherein zu verhüten, ist bestimmt, daß sie
vor der Inkraftsetzung den höheren Behörden zur Geltendmachung der Einwendungen oder
zur ausdrücklichen Genehmigung vorzulegen seien; so sind die orts-- und bezirkspolizeilichen
Vorschriften zur Vollziehbarkeitserklärung dem Landeskommissär, die Orts-, Bezirks= und
Kreisstatuten dem Bezirksrathe oder dem Ministerium des Innern zur Kenntnißnahme
bezw. Genehmigung, die hausgesetzlichen Vorschriften des Adels dem Landesherrn zur Gel-
tendmachung etwaiger Beanstandungen vorzulegen. Auch sind die zuständigen höheren Be-
hörden befugt, solche statutarischen Vorschriften von sich aus oder auf Beschwerde Einzelner
wegen Widerspruchs mit dem Gesetz oder Verletzung von Rechten Dritter außer Kraft zu
setzen, orts= und bezirkspolizeiliche Vorschriften auch schon wegen Benachtheiligung des öffent-
lichen Wohles 7).
§ 71. III. Insbesondere das provisorische Gesetz (Nothverordnung). In dem Fallle,
wenn das Staatswohl die Erlassung gewisser Rechtsnormen, die nach ihrer Natur nur mit
Zustimmung der Stände zu Stande kommen können, in der Art dringend gebietet, daß der
vorübergehende Zweck derselben durch jede Verzögerung vereitelt würde, kann der Groß-
herzog solche unter der Verantwortlichkeit der Minister ohne vorherige Einholung der Zu-
stimmung der Landstände erlassen?:). Vgl. o. I# 22, 33. Diese sog. provisorischen Gesetze
— Nothverordnungen mit Gesetzeskraft — tragen im Uebrigen ganz den Charakter von
Gesetzen. Es kann durch sie deshalb all das bestimmt werden, was sonst durch echte Gesetze
bestimmt werden kann, sofern diese nicht an bestimmte Mehrheiten gebunden sind, wie dies
bei Verfassungsgesetzen der Fall ist. Sie verlieren jedoch, wenn nicht vorher mit Zustim-
mung der Landstände erneuert, ihre Wirksamkeit mit dem Schlusse des auf ihre Erlassung
folgenden Landtages, und zwar auch ohne ausdrückliche Außerkraftsetzung. Dies, obwohl in
der Verfassungsurkunde nicht ausdrücklich bestimmt, folgt mit Nothwendigkeit theils daraus,
daß solche sog. provisorische Gesetze nur einen „vorübergehenden Zweck“ haben, theils dar-
aus, daß nach den allgemeinen Grundsätzen über die Nothwendigkeit der Einholung stän-
discher Zustimmung zu Gesetzen dieses Erforderniß von der Regierung erfüllt werden muß,
sobald dazu die Möglichkeit sich ergibt.
Wünscht die Regierung die Fortdauer der durch das provisorische Gesetz getroffenen
Rechtsnorm, so legt sie zu diesem Zwecke ein Gesetz des gleichen Inhaltes dem nächsten Land-
tage vor. Ueber dessen geschäftliche Behandlung gelten die allgemeinen Grundsätze. Wird
1) Das. § 25. 2) V.U. 8 66.