170 Vierter Abschnitt: Allgemeine Funktionen der Staatsgewalt. I. Kapitel. 872.
IV. Prüfungsrecht der Gerichte einschließlich der Verwaltungsgerichte.
1. Prüfung der Gesetze. Die Aufgabe des Richters geht dahin, im einzelnen Falle die
gestörte Rechtsordnung dadurch wiederherzustellen, daß er ausspricht, was Rechtens, d. i. was
der Wille des Staates in Beziehung auf die rechtliche Gestaltung des in Frage stehenden
thatsächlichen Verhältnisses ist. Diesen Ausspruch hat er auf eigene, durch keine Ober-
behörde gedeckte, Verantwortung und deshalb nur auf Grund eigener Ueberzeugung zu thun.
Er muß darum zu jeder Prüfung berechtigt und verpflichtet sein, welche nothwendig ist,
um ihn sowohl von der wahren Gestaltung der thatsächlichen Verhältnisse, als von dem
wahren Willen des Staates zu überzeugen. Nur den wahren Willen des Staates darf er
zur Geltung bringen; die Anwendung eines Rechtssatzes, welcher nicht der wahre Wille des
Staates ist, wäre eine Störung der Rechtsordnung seinerseits.
Unbezweifelt hat deshalb jeder Richter zunächst zu prüfen, ob die Rechtsnorm, deren
Anwendung von ihm mit der Behauptung, sie sei ein Gesetz, verlangt wird, überhaupt die
äußeren Formen eines Gesetzes an sich trägt, somit — bei Rechtsnormen, die seit der Ein-
führung der Verfassung ergangen sind — ob die Norm vom Landesherrn ausgegangen,
die Zustimmung der Landstände erwähnt, die Gegenzeichnung eines Mitgliedes des Staats-
ministeriums und die gehörige Verkündung erfolgt ist. Fehlt das letztere Erforderniß oder
ist aus der Verkündung das Vorhandensein des einen oder anderen der übrigen Erforder-
nisse nicht ersichtlich, so liegt schon äußerlich kein Gesetz vor — im Falle des Mangels der
Zustimmung der Landstände möglicher Weise doch eine Verordnung — und der Richter ist
weder verpflichtet noch auch nur befugt, die betreffende Norm als ein Gesetz anzuwenden.
Ist die Verkündung ordnungsmäßig erfolgt, unter Anführung der oben erwähnten
weiteren äußeren Erfordernisse eines Gesetzes, so ist der Richter so lange zur Anwendung
desselben verpflichtet, als nicht bezüglich des einen oder anderen dieser Erfordernisse ge-
radezu eine Fälschung behauptet ist. Gegenüber einer derartigen Behauptung, vorausgesetzt,
daß sie soweit thatsächlich begründet ist, um gegenüber der Vermuthung der Legalität der
verkündeten Norm Berücksichtigung zu verdienen, muß der Richter allerdings befugt sein,
die Echtheit des angeblichen Gesetzes zu prüfen.
Steht fest, daß die Norm, welche sich als Gesetz ankündigt, den äußeren Erforder-
nissen nach ein Gesetz ist, d. h. daß Regierung und Stände wirklich beurkundet haben, das
als Gesetz Verkündete beschlossen und bestätigt zu haben, so kann die weitere Frage ent-
stehen, ob innerhalb jedes einzelnen dieser gesetzgebenden Faktoren dieser Beschluß wirklich
in der Art zu Stande gekommen ist, wie er nach der Verfassung allein zu Stande kommen
konnte, insbesondere — da, was die Regierung betrifft, nur zwei Thatsachen in Frage
stehen: Genehmigung des Großherzogs und Gegenzeichnung eines verantwortlichen Ministers
— ob dies innerhalb der Ständeversammlung der Fall war.
Hier ist als ausgeschlossen von der Prüfung durch den Richter zu erachten:
1. Alles dasjenige, was durch ausdrückliche Gesetzesbestimmung dem Ermessen der
einen oder anderen Kammer oder beider anheimgestellt ist. Dahin gehört insbesondere die
Frage der Legitimation der durch Wahl berufenen Mitglieder der Kammer, sowie die Fragen
der Geschäftsordnung, soweit diese nicht durch die Verfassung oder ein anderes Gesetz dem
Belieben der Kammer entzogen ist.
2. Alles dasjenige, was durch die Natur der Sache oder der betreffenden Gesetzes-
bestimmung eine Verschiedenheit der Auffassungen zuläßt. Denn da die gesetzgebenden Fak-
toren, Regierung und Landstände, eben dasjenige Organ sind, durch welche der Staat seinen
Willen in der höchsten Potenz bildet, so steht ihnen die Vermuthung der Legalität ihrer
Handlungen und Kundgebungen unbedingt zur Seite; es muß somit angenommen werden,
daß diejenige Auffassung der Gesetze oder Thatsachen, von welcher sie übereinstimmend aus-