§ 105. Die staatliche Fürsorge für die Erziehung verwahrloster jugendlicher Personen. 225
Die Stellung unter Polizeiaufsicht (R.Str. G. B. 88 38, 39) soll nur statt-
finden, wenn begründete Besorgniß besteht, daß der Verurtheilte die wiedererlangte Freiheit
in gemeingefährlicher Weise mißbrauchen werde. Sie wird von dem Landeskommissär an-
geordnet, zu dessen Bezirk der Ort gehört, an welchem der Verurtheilte nach der Ent-
lassung aus der Strafanstalt seinen ständigen Aufenthalt nehmen will, und zwar auf Grund
von Gutachten der Gefängnißbehörde und des Bezirksamtes, und auf mindestens sechs Monate.
Die Entscheidung des Landeskommissärs kann zugleich die Bestimmung darüber enthalten,
ob und an welchen einzelnen Orten dem Verurtheilten der Aufenthalt versagt, ob ein ver-
urtheilter Reichsausländer aus dem Bundesgebiet verwiesen werden soll.
Der unter Polizeiaufsicht Gestellte ist zur jeweiligen persönlichen An= und Abmel-
dung seines Aufenthaltes bei der Polizeibehörde binnen kürzester Frist verpflichtet.
Wenn der Strafrichter die Ueberweisung einer Person an die Landespolizei-
behörde ausgesprochen hat, so entscheidet auf Vorlage der Akten und nach Vornahme
etwa nothwendiger weiterer Erhebungen der Landeskommissär, ob und auf welche Zeitdauer
die Unterbringung im Arbeitshause#) — die sog. korrektionelle Nachhaft — bezw.
ob die Ausweisung aus dem Bundesgebiet stattzufinden habe. Die Unterbringung im Ar-
beitshause ist in der Regel gegen jeden der Landespolizeibehörde überwiesenen Reichs-
angehörigen festzusetzen, erstmals auf sechs Monate, in Wiederholungsfällen bis zu zwei
Jahren. Gegen die Entscheidung des Landeskommissärs ist der Rekurs an das Ministerium
des Innern gemäß der Verfahrensordnung für Verwaltungssachen zulässig.
Die Nachhaft wird im Arbeitshause zu Kislau unter angemessener Beschäftigung der
Häftlinge vollzogen.
Von den (Fz. Zt. auf 240 Mk. jährlich festgesetzten) Verpflegungskosten hat der zur
Armenunterstützung verpflichtete Armenverband die Hälfte zu tragen).
Zigeunern ist das Zusammenreisen in Horden untersagt, auch eine besondere Melde-
pflicht auferlegt .
§ 105. DC) Die staatliche Fürsorge für die Erziehung verwahrloster jugendlicher
Personen ist im Anschluß an R. Str. G. B. 8§ 55 u. 56 (Fassung von 1876) durch ein
Gesetz vom 4. Mai 18865) geregelt.
Darnach können jugendliche Personen, welche das sechszehnte Lebensjahr noch nicht
vollendet haben, wegen sittlicher Verwahrlosung auf Grund einer gerichtlichen Entscheidung
in eine geeignete Familie oder in eine staatliche oder geeignete Privaterziehungs= oder
Besserungsanstalt untergebracht werden:
wenn ihr sittliches Wohl durch Mißbrauch des Erziehungsrechtes oder durch
grobe Vernachlässigung seitens der Eltern oder sonstiger Fürsorger gefährdet ist, oder
wenn nach ihrem Verhalten die Erziehungsgewalt ihrer Eltern oder sonstigen
Fürsorger und die Zuchtmittel der Schule sich zur Verhütung ihres völligen sittlichen
Verderbens unzulänglich erweisen.
Die Unterbringung zur Zwangserziehung erfolgt, nachdem das zuständige Amtsgericht
das Vorhandensein der gesetzlichen Voraussetzungen festgestellt und die Unterbringung für
erforderlich erklärt hat.
Das Amtsgericht beschließt auf Antrag des Bezirksamtes oder von Amtswegen.
Die Staatsanwaltschafts-, Polizei-, Gemeinde= und Schulbehörden sind verpflichtet, die
1) Verord. d. Min. d. Inn. v. 11. Mai 1883, G. u. V. Bl. Nr. XIV, S. 140.
2) Verord. d. Min. d. Inn. v. 19. Dez. 1889, G. u. V. Bl. Nr. XXXIII, S. 527.
3) Art. 13. Ziff. IV d. Einf. Ges. v. 23. Dez. 1871, G. u. V. Bl. Nr. LI, S. 431.
4) Verord. d. Min. d. Inn. v. 19. Nov. 1863, C. Verord. Bl. S. 76.
5) G. u. V. Bl. Nr. XXVI, S. 225.
Handbuch des Oeffentlichen Rechts III. 2. Aufl. Baden. 15