10 Zweiter Abschnitt: Staat und Staatsverfassung. I. Kapitel. 87.
Einzelwillens unter den Willen der Staatsgesammtheit, denn ohne diese wäre das Be-
stehen des Staates unmöglich. Diese Unterordnung ist eine unbedingte; keinerlei Erwägung
der Wissenschaft, der Religion, der Sitte, der Zweckmäßigkeit ermächtigen rechtlich einen
Staatsangehörigen, sich der Unterwerfung unter den ihm einmal kundgegebenen Staats-
willen zu entziehen.
Diese unbedingte Unterordnung, Gehorsam im w. S., äußert sich den den Organis-
mus des Staates feststellenden Gesetzen und dem Staatsoberhaupt gegenüber als Treue,
den übrigen, in der Form von Gesetzen, Verordnungen und Anordnungen erscheinenden,
Kundgebungen des Staatswillens gegenüber als Gehorsam im e. S..
Nur dem wirklichen Staatswillen aber, keineswegs jeder Kundgebung, welche mit
dem Anspruch auftritt, diesen Staatswillen zu repräsentiren, hat der Staatsangehörige
sich unbedingt zu sügen. Als an und für sich freie, der Staatsgesammtheit nur nach
Maßgabe bestimmter organischer Grundgesetze eingeordnete Persönlichkeit hat er im Interesse
seiner eigenen Person das Recht, im Interesse der Gesammtheit die Pflicht, zu prüfen,
ob diejenige Kundgebung, für welche Gehorsam verlangt wird, wirklich den Staatswillen
enthält, und den Gehorsam zu versagen, insofern und insoweit dies nicht der Fall ist.
Mit a. W. Jeder ist nur zu verfassungsmäßigem Gehorsam verpflichtet. Die ein-
zelne in Rede stehende Kundgebung kann aber den wirklichen Staatswillen möglicher
Weise deshalb nicht enthalten, weil 1) sie nicht in der Form zu Stande gekommen ist
oder auftritt, in welcher verfassungsmäßig der Staatswille hätte kundgegeben werden
müssen; 2) weil ihr Inhalt dem widerspricht, was verfassungsmäßig als Staatswille zu
Recht besteht; 3) weil diejenigen Personen, welche sich als die Träger des Staatswillens
ausgeben, dies überhaupt oder im einzelnen vorliegenden Falle nicht sind. Demnach ist
die Gehorsamsweigerung rechtlich begründet: 1) wegen formeller Ungiltigkeit der betreffen-
den Kundgebung; 2) wegen Widerspruchs des Inhaltes desselben mit einer höher stehen-
den Kundgebung des Staatswillens (also eines Gesetzes mit der Verfassung, einer Ver-
ordnung mit einem Gesetze, einer Verfügung mit einer Verordnung 2c.); 3) wegen Unzu-
ständigkeit der als Staatsvollzugsorgane handelnden Personen.
Diese Prüfung und Gehorsamsweigerung geschieht übrigens auf Gefahr und Ver-
antwortung des einzelnen Staatsangehörigen. Er setzt sich dadurch der Anwendung von
Zwangsmaßregeln Seitens der vollziehenden Gewalt aus?) und begeht dann, wenn sein
Nichtgehorsam ungerechtfertigt war, möglicher Weise eine strafbare Handlung. Aktiver
Widerstand gegen (rechtsgiltige) Gesetze oder rechtsgiltige Verordnungen oder von der
Obrigkeit innerhalb ihrer Zuständigkeit getroffene Anordnungen oder gegen Beamte,
welche in der rechtsmäßigen Ausübung ihres Amtes begriffen sind oder gegen deren Hilfs-
personen, desgleichen öffentliche Aussorderung zum Ungehorsam gegen derartige Akte der
Staatsgewalt ist nach Reichsrecht ein strafrechtlich zu verfolgendes Vergehen )). Ob im
einzelnen Falle wirklich Gehorsam hätte geleistet werden sollen, oder aber wegen mangeln-
der Rechtsgiltigkeit des Gesetzes, der Berordnung oder Anordnung oder wegen mangeln-
der Zuständigkeit der betreffenden Behörden der Ungehorsam, selbst die Nothwehr gerecht-
fertigt war, ist nach der über die Bildung, die Kundgebung und die Vollziehuung des
Staatswillens bestehenden Gesetzgebung zu bemessen und vom Richter, je nach der Lage
des Falles, dem Verwaltungsrichter oder dem Strafrichter, zu beurtheilen. Ueber das
richterliche Prüfungsrecht gegenüber von Gesetzen 2c. s. später.
1) Die Pflicht der Treue insbesondere wird verletzt bei den Verbrechen des Hochverrathes;
über diese s. R. Str. G. B. §§ 80—93.
2) Ueber diese Zwangsmaßregeln, das Rechtsmittel dagegen und das desfallsige Verfahren s. u.
3) R. Str. G. B. § 110. S. a. R. Str. G. B. 8 116.