Full text: Sächsische Volkskunde.

250 Hermann Dunger: Volksdichtung in Sachsen. 
Erscheinung des Buchhandels angekündigt: „Mein Vaterland am schönen 
Elbestrand, Volkslied von E. Karl, komponiert von Rache.“ Also Herr 
Karl verfaßt ein Gedicht, Herr Rache setzt eine Tonweise dazu, und nun ist 
ein neues Volkslied fertig. Wenn das so wäre, so müßten in Zukunft die 
Freunde des Volksgesangs in Musikläden und Bücherverzeichnissen sammeln, 
aber nicht im Volke selbst. Es ist ein schlimmes, leider oft vorkommendes 
Mißverständnis, wenn man glaubt, daß Dichtungen, die für das Volk bestimmt 
sind, deswegen schon Volkslieder seien. Dann müßte man auch die platten 
Reimereien des im vorigen Jahrhundert erschienenen Mildheimer Liederbuches 
als Volkslieder ansehen. 
Wollen wir uns über den Begriff Volkslied klar werden, dann thun 
wir gut, von dem Worte selbst auszugehen. Der Ausdruck Volkslied ist 
von Herder gebildet worden, der überhaupt das Verdienst hat, die Volks- 
dichtung in Deutschland so zu sagen entdeckt zu haben. Im Gegensatze zu der 
ungesunden, gelehrten, verstandesnüchternen Kunstdichtung seiner Zeit wies er 
auf den frisch sprudelnden Quell einfacher, natürlicher Dichtung im Volke hin. 
Er sprach das berühmte Wort aus, daß die Poesie kein Vorrecht der Gebildeten, 
sondern eine allgemeine Welt= und Völkergabe sei; er zeigte, welche Kraft 
und Tiefe des Gefühls, welche Ursprünglichkeit in diesen schlichten Dichtungen 
enthalten sei. In Anlehnung an den englischen Ausdruck national oder 
bopular song und an den französischen chanson populaire nannte er sie 
Volkslieder. Das Volkslied ist also in einen Gegensatz zu der gelehrten 
Dichtung der Gebildeten gestellt, demnach bedeutet Volk in diesem Zusammen- 
hange nicht die Gesamtheit der Bewohner eines Landes, sondern das niedere, 
außerhalb des Kreises höherer Bildung stehende Volk. Freilich hat Herder 
diesen Begriff nicht in seiner Schärfe festgehalten; denn bei der Herausgabe 
seiner „Volkslieder"“ nahm er auch Dichtungen von Martin Opitz, Simon 
Dach, Robert Roberthin mit auf, von denen das Volk nichts wußte. Noch 
schlimmer ist es, wenn Erlach in seiner Volksliedersammlung auch Goethes 
Braut von Korinth mit abdruckt. Und eine ähnliche Unklarheit ist es, wenn 
man, wie es jetzt so häufig geschieht, die Wacht am Rhein als deutsches 
Volkslied bezeichnet. Die Dichtung Max Schneckenburgers, die zum deutschen 
Nationallied geworden ist, ist durchglüht von echter vaterländischer Begeiste- 
rung, aber — ihre Sprache ist nicht die des Volkslieds. „Es braust ein Ruf 
wie Donnerhall, wie Schwertgeklirr und Wogenprall“ — das sind Ausdrücke 
und Bilder, die dem Volke fremd sind. Wendungen, wie „die heil'ge Landes- 
mark“, „Heldengeister“ die „aus Himmelsau'n niederschaufn“, sind dichterisch 
schön, aber nicht volkstümlich. Die gehobene, schwungvolle, leidenschaftliche 
Sprache weicht von der einfachen, natürlichen, schlichten Ausdrucksweise des 
Volkes ab. Nur der Kehrreim „Lieb Vaterland, magst ruhig sein“ — trifft 
in glücklicher Weise den treuherzigen Volkston, ihm ist jedenfalls auch die
	        
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