Hermann Dunger: Volksdichtung in Sachsen. 251
Beliebtheit des Liedes zu danken. Einfachheit, Natürlichkeit, Wahrheit und, was
Goethe noch verlangt, Faßlichkeit sind die Hauptkennzeichen des Volkslieds.
Aber es giebt auch Lieder, die diesen Volkston vorzüglich treffen und
doch nach strenger Fassung des Begriffs nicht als Volkslieder zu be-
trachten sind. Ich meine solche allgemein bekannte Lieder wie: In einem kühlen
Grunde — von Eichendorff, Steh' ich in finstrer Mitternacht — von Hauff,
Es zogen drei Burschen wohl über den Rhein — von Uhland. Diese nennt
man zur Unterscheidung von den eigentlichen Volksliedern volkstümliche
Lieder. Es giebt ihrer eine große Zahl, darunter sind wahre Perlen
deutscher Lyrik, die an dichterischem Werte hoch über den Volksliedern stehen.
Viele treffen den Ton des Volkslieds so meisterhaft, daß es selbst für einen
Kenner oft nicht möglich ist zu entscheiden, ob er ein Volkslied oder ein
volkstümliches Lied vor sich hat. Darum haben neuere Forscher diesen
Unterschied fallen gelassen, wie John Meier,') der die Volkspoesie erklärt
als „diejenige Poesie, die im Munde des Volkes — Volk im weitesten
Sinne genommen — lebt, bei der aber das Volk nichts von individuellen
Anrechten weiß oder empfindet“, d. h. die es beim Singen umändert. Ich
kann mich dieser Auffassung nicht anschließen. Durch die Schulen, durch die
Gesangvereine, durch die in ihre Heimat zurückkehrenden Soldaten werden
jetzt manche Kunstlieder ins Volk gebracht, die von dem Wesen der alten
Volkslieder völlig verschieden sind; dazu kommen sinnlose Gassenhauer,
Opern= und Operettenmelodien mit unglaublichen Texten. Sollen wir das
alles als Volksdichtung hinnehmen, weil es vom Volke gesungen und beim
Singen hie und da etwas verändert wird? Für den Volksliedsammler
empfiehlt es sich, den Begriff Volkslied nach der strengeren Auffassung zu
erklären als ein im Volke d. h. in den mittleren und niederen Schichten der
Bevölkerung entstandenes und gedächtnismäßig überliefertes ge-
sungenes Lied, das der Eigenart des Volkes in Sprache und Anschau-
ungsweise entspricht.
Volk bezeichnet also in diesem Sinne nach der Begriffserklärung des
Asthetikers Vischer (Asthetik III 2, S. 1356 ff.) den „Teil der Nation, der
von den geistigen Mitteln ausgeschlossen ist, durch welche die Bildung als
die bewußtere und vermitteltere Auffassung seiner selbst und der Welt
erarbeitet wird", — „die Masse, die in der alten einfachen Sitte wurzelt,
die ihre Bildung auch hat, aber eine solche, welche der die Kluft bedingenden
Bildung gegenüber Natur ist“, — „in diesem Boden wächst jene Kunst ohne
Kunst, deren Grundzug die Schönheit der Unschuld ist, die nicht sich selbst
und ihren heiligen Wert erkennt“. „Lieder aus der Sphäre bewußter Bildung,
*) „Volkslied und Kunstlied in Deutschland.“ Vortrag, gehalten in der
germanistischen Sektion der Dresdner Philologenversammlung 1897, abgedruckt in der
Beilage der Münchener Allgem. Zeitung v. 7. u. 8. März 1898.