Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
I. Buch. II. Der nationale Gedanke und die Parteien. 85 
  
Bekämpfung der Sozialdemokratie ön der sozialdemokratischen Bewegung 
ohne Gewaltmittel. habe ich vom ersten bis zum letzten 
Tage meiner Amtsführung eine sehr 
ernste und sehr große Gefahr erblickt. Der Kampf gegen die Sozialdemokratie ist Pflicht 
jeder deutschen Regierung so lange, bis die Sozialdemokratie niedergerungen oder eine 
andere geworden ist. Hinsichtlich der Aufgabe selbst kann kein Zweifel bestehen, wohl 
aber hinsichtlich der Wege und Mittel, die zu wählen sind. 
Nacchd em das Sozialistengesetz gefallen ist, sind die Wege gewaltsamer Unterdrückung 
nicht mehr gangbar. Oie letzte Möglichkeit für ein Vorgehen in dieser Richtung lag 
während der Zeit vor, in der ein Mann von so unvergleichlichen Erfolgen, mit einem so 
unermeßlichen Ansehen wie Fürst Bismarck an der Spitze der Regierung stand. Er hätte 
in der inneren Politik auch Außerordentliches unternehmen und durchführen können, 
wie er es auf Grund seines internationalen Ansehens in der auswärtigen Politik ver- 
mochte. Unter der politischen Führung Bismarcks war manches möglich und erreichbar, 
was heute stillschweigend aus dem Bereich der Möglichkeiten ausgeschaltet werden muß. 
Er war eine politische Voraussetzung für sich. Es ist unvernünftig, wieder und wieder 
nach Mitteln und Unternehmungen zu verlangen, für die diese Voraussetzung fehlt. Wir 
müssen vielfach andere Wege gehen und die Kraft und den Willen aufbringen, auf ihnen 
ohne die Bismarcksche Führerschaft zum Ziele zu gelangen. Das gilt auch für den Kampf 
gegen die Sozialdemokratie. 
Selbstverständlich muß jede Störung der öffentlichen Ordnung mit voller Energie 
zurückgewiesen werden. Das ist die erste Pflicht jeder Kegierung, in jedem geordneten 
Staatswesen, sei es republikanisch oder monarchisch, möge die Regierung von konser- 
vativen, liberalen oder demokratischen Tendenzen geleitet sein. Die Entschlossenheit, 
mit der in Frankreich aus der radikalen Partei hervorgegangene Minister Bersuche, 
die öffentliche Ordnung zu stören, mit aller wünschenswerten Promptheit nieder- 
geschlagen haben, kann jedem Minister in anderen Ländern als Vorbild dienen. 
Falsche Kücksicht in dieser Hinsicht ist RKücksichtslosigkeit gegen die große Mehrheit des 
Bürgertums, die Anspruch hat, unter dem Schutze geordneter Zustände zu arbeiten. 
Zn diesem Sinne hat auch Goethe, der den politischen Dingen nicht so gleichgültig gegen- 
Überstand, wie oft angenommen wird, die Erhaltung der öffentlichen Ordnung als die 
erste Pflicht jeder Regierung bezeichnet. Aus solchem Gefühl setzte Schopenhauer, 
gewiß ein freier Geist, zu seinem Universalerben den in Berlin errichteten Fonds ein, 
der bestimmt war „zur AUnterstützung der in den Aufruhr- und Empörungskämpfen der 
Jahre 1848 und 1849 für Aufrechterhaltung und Herstellung der gesetzlichen Ordnung 
in Deutschland invalide gewordenen preußischen Soldaten“. Aber etwas anderes ist es, 
ob die Regierung gegen Ruhestörung mit Gewalt vorgeht, etwas anderes, ob sie selbst in 
die ruhige Entwicklung eingreift, um einer etwaigen Entladung einer radikalen Bewegung 
im Volke vorzubeugen. Im letzteren Falle läuft sie Gefahr, durch Gewalt erst Gewalt 
zu erwecken, die möglicherweise sonst nicht zum Ausbruch gekommen wäre. Jeder Stoß 
erzeugt einen Gegenstoß von entsprechender Stärke. Eine an sich starke, wohlorganisierte, 
auf weite und zuverlässige Sympathien gestützte politische Bewegung im Volk wird in 
  
  
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