Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
92 gnnere Politik. I. Buch. 
in Deutschland das Rückgrat gebrochen würde, macht für uns die Lösung des sozial- 
demokratischen Problems besonders schwer. Der praktische Modus vivendi, der in Süd- 
deutschland hier und da mit der Sozialdemokratie angestrebt worden ist, erscheint für 
Preußen nicht möglich. Als Militär- und Beamtenstaat ist Preußen groß geworden, 
als solcher hat es das deutsche Einigungswerk durchführen können, Militär- und Beamten- 
staat ist es bis auf den heutigen Tag im wesentlichen geblieben. Die starke Bindung in 
Preußen von oben her hat von jeher eine besonders kräftige Gegenbewegung erzeugt. 
Die Berliner Nörgel- und Kritiksucht war in ganz Deutschland schon bekannt in der Zeit 
des absoluten Königtums, als Friedrich der Große gelegentlich die Pamphlete niedriger 
hängen ließ. Nur eine Beamtenschaft, die so sehr wie die preußische an Führung gewöhnt 
war, konnte so vollständig den Kopf verlieren, als im Unglücksjahr 1806 der Regierung die 
Zügel entglitten. Die bürgerliche Demokratie blieb in Preußen auch nach dem Ubergang 
des Staates zu konstitutionellen Verfassungsformen in starrerer Opposition als im deut- 
schen Süden und gng in ihren Forderungen weiter. Dementsprechend war auch der 
reaktionäre Rückschlag während der fünfziger Zahre in Preußen von besonderer Heftigkeit. 
Die Sozialdemokratie, die in Süddeutschland vielfach versöhnliche Allüren annimmt und 
sich geneigt zeigt, von den sozialistischen Programmforderungen für die praktische Politik 
des Tages manches abzulassen, ist in Preußen ebenso radikal in ihrem Auftreten wie in 
ihren Forderungen. Im natürlichen Gegensatz dazu hat Preußen einen Konservativismus, 
wie ihn keiner der anderen deutschen Bundesstaaten kennt und ihn auch nicht braucht. 
Preußen ist als Staat ein Mann und wie jeder rechte Mann voll schroffer Gegensätze 
und nur tüchtiger Leistungen fähig, wenn in ihm ein starker Wille herrscht. Nach außen 
wie nach innen ist dieser Staat meist nur entweder ganz stark oder ganz schwach gewesen. 
Taten größter Stärke und größter Schwäche liegen hier dicht bei einander. Zena und 
Leipzig trennen nur sieben Jahre. Auf den traurigen Rückzug der Truppen aus Berlin am 
19. März 1848 und auf die schwächliche Politik, die übeer Bronzell und Olmütz zum alten 
Bundestag zurückführte, folgten zwanzig Zahre später Sadowa und Sedan. Unter einer 
kräftigen Obrigkeit ist Preußen in sich fester gewesen, hat eine opferwilligere und diszi- 
pliniertere Bevölkerung gefunden als irgendein anderer Staat. Wenn die Obrigkeit 
schwach und mutlos, zaghaft und farblos in der Außerung ihres Willens wurde, hat Preußen 
ein Versagen des gesamten staatlichen Apparates erlebt, wie ebenfalls kaum ein anderer 
Staat. Kopflos wie 1806, als der Minister des Innern des dem Feinde geöffneten Landes 
Rube für die erste Bürgerpflicht erklärte und die hohe Berliner Beamtenschaft den Sieger 
devotest am Brandenburger Tor begrüßte, waren die Behörden auch im Revolutionsjahr 
1848, wo der Oberpräsident der Provinz Sachsen stolz verkündete, er nähme seine Stellung 
über den Parteien, während eine mächtige Parteibewegung die Grundfesten der Non- 
archie erschütterte. Wollte die preußische Regierung eine Verständigung mit der Sozial- 
demokratie versuchen, eine Partei, die die monarchischen und militärischen Fundamente 
des preußischen Staates seit Jahrzehnten bekämpft, als berechtigt anerkennen: das 
preußische Beamtentum, der Mittelstand, der ostelbische Landbdewohner und am Ende 
selbst die Armee würden irre werden an Staat und Obrigkeit. Der Verzicht der Regierung 
auf den Kampf gegen die Sozialdemokratie würde in Preußen verstanden werden als 
92
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.