Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
86 Die Reichsversicherung. II. Buch. 
  
schnitt 1851 bis 1860 in Deutschland 27,81 Gestorbene, 1910 dagegen nur 17,1. Er- 
höhung der Lebensdauer und der Lebenskraft müssen aber auch als Faktoren eingesetzt 
werden, die die deutsche Volkswirtschaft und ihre Unternehmer als positive Werte an- 
erkennen müssen. Allerdings lassen sich hier die Wirkungen der Arbeiterversicherung von 
denen des Arbeiterschutzes nicht trennen. Doch kann hier nicht weiter verfolgt werden, 
wie auch dieser zur Hebung des körperlichen, wirtschaftlichen, sittlichen und allgemein 
kulturellen N#veaus beigetragen hat. 
Lähmt die Sozialversicherung Eine andere, hier eingreifende Grundfrage ist 
die, ob durch die staatliche Fürsorge die Tat- 
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iewtschaflchesnmatspæ kraft der vielen Millionen von Personen, die 
der Sozialversicherung unterliegen, gelähmt, ob ihre Tendenz zur Selbsthilfe geschwächt 
wird. Würde dies in der Tat der Fall sein, so müßte man von außerordentlich großen 
und beseitigungswerten Schäden der sozialen Versicherung reden. 
Dieser vielfach gehörte Einwand geht jedoch fehl. Man muß daran denken, daß 
die mit der liberalen Ara unserer Politik unzertrennbare Manchesterlehre in dem freien 
Spiel der wirtschaftlichen Kräfte das ganze Heil sah und jeden einzelnen auf seine eigene 
Kraft, sein eigenes Wollen und Können stellte. Die Erfahrung hat jedoch gelehrt, daß 
tatsächlich in diesem freien Wettbewerb diejenigen unterliegen mußten, die ohne Kapital 
oder sonstige wirtschaftlich sichere Einlagen den Kampf ums ODasein aufzunehmen ge- 
zwungen und nur im Besitz ihrer körperlichen und geistigen Kräfte waren, deren Ab- 
nützung und Verfall leicht vorauszuberechnen ist. So schuf denn jene liberale Wirtschafts- 
ordnung tatsächlich nicht gleiche Bedingungen für die Wirksamkeit der einzelnen volks- 
wirtschaftlich unentbehrlichen Kräfte, sondern die Möglichkeit einer Ausbeutung des öko- 
nomisch Schwächeren durch den Stärkeren. Es bleibt ein Ruhmestitel der neueren deutschen 
Wirtschaftspolitik, erkannt zu haben, daß die Kräfte von Arbeitgeber und Arbeitnehmer 
keineswegs gleich, sondern ungleich sind, und ferner, daß der Arbeiter nur bei Gewährung 
staatlichen Schutzes in der Lage ist, menschenwürdig zu leben und sich höher zu entwickeln. 
Bei der naturgemäß großen Bedeutung, die für den Staat die Gesundheit und allgemein 
kulturelle Höhe des Arbeiterstandes hat, ist die grundsätzliche Anerkennung von der Not- 
wendigkeit eines staatlichen Schutzes ein nicht mehr zu vermissendes Element deutscher 
staatlich-politischer Kulturanschauung. Auf dem Boden dieser aber muß man die von der 
Sozialversicherung gewährten Leistungen als solche anerkennen, die bestimmt sind, mit 
Hilfe des Reiches dem einzelnen Arbeitstätigen dasjenige zu gewähren, was er aus 
eigener Kraft sich zu beschaffen nicht in der Lage wäre, dessen er aber bedarf, um ein 
nützliches Glied des Gemeinwesens zu sein. 
Aber auch von einem anderen Gesichtspunkte geht das Bedenken einer Ausschal- 
tung der Selbsthilfe zu weit. Die Gewährungen in der Invaliden-, Hinterbliebenen- 
versicherung sind, soweit eine Kente in Betracht kommt, nicht derart, daß man wirklich 
von einer namhaften, für den Lebensunterhalt auch nur zur Not ausreichenden Beihilfe 
reden könnte. Aber auch von den Renten der Unfall- und Angestelltenversicherung wird 
wohl kaum je ein Arbeiter oder Angestellter vollständig leben können. Für die Anspannung 
  
  
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