I. Buch. Auswärtige Politik. 31
bundes herangezogen werden. Wie dem Deutschen Reich gerade dadurch eine Gewähr
der Dauer gegeben ist, daß seine Verfassung bei aller Bindung in den großen national-
politischen Aufgaben den Einzelstaaten ihre Selbständigkeit in der eigentümlichen
Erfüllung ihrer engeren Aufgaben läßt, so bindet auch der Dreibund die drei großen
Mächte Mitteleuropas in den großen kontinentalpolitischen Zwecken, auf die der Bund
begründet wurde, läßt ihnen aber Freiheit in der Verfolgung ihrer besonderen nationalen
Interessen. Italien, sterreich und Deutschland ruhen mit den starken Wurzeln ihres
Lebens in der europäischen Politik, und ihre Wurzeln sind vielfältig und fest ineinander
verschlungen. Das Geäst der Bäume aber muß sich frei nach den verschiedenen Seiten
ausbreiten können. Der Dreibundvertrag darf und will nicht die Heckenschere sein,
die das freie Wachstum ohne zwingenden Grund bhindert.
Es gibt Politiker, die der Zugehörigkeit Ftaliens zum Dreibunde einen rechten
Wert nicht zusprechen wollen. Die Bedenken gründen sich auf den Zweifel daran,
ob Italien in der Lage und willens sein würde, in allen vorkommenden Ver-
wickelungen der internationalen Politik mit ÖOsterreich und uns Hand in Hand zu
gehen. Selbst wenn diese Zweifel begründet wären, was bei der Loyalität der maß-
gebenden Faktoren in BStalien und der politischen Klugheit des italienischen Volkes
nicht der Fall ist, so würde damit gegen den Wert der Zugehörigkeit Italiens zum ODrei-
bund noch nicht alles bewiesen sein. Auch wenn Ztalien nicht in allen Situationen bis
zu den letzten Konsequenzen mit uns und Österreich und wir und Österreich nicht in
allen Verwickelungen des weltpolitischen Getriebes mit Italien gehen könnten, so würde
doch jede der drei Mächte durch den Bestand des Bündnisses verhindert sein, dem
Gegner der anderen zur Seite zu treten. Das hatte Fürst Bismarck im Auge, wenn
er einmal äußerte, es genüge ihm, daß ein italienischer Korporal mit der italienischen
Fahne und einem Trommler neben sich die Front gegen Westen, d. h. gegen Frankreich,
und nicht gegen Osten, d. h. gegen Österreich nehme. Alles weitere wird davon ab-
hängen, wie eine eventuelle Konfliktsfrage in Europa gestellt, mit welchem Nachdruck
sie militärisch von uns vertreten und mit welchem Erfolg sie militärisch und diploma-
tisch durchgeführt wird. Der letzte und volle Wert eines Bündnisses kann nur im Ernst-
fall erprobt werden. Im Frieden wird der Dreibund von so soliden, beinahe unzerstör-
baren kontinentalpolitischen Interessen zusammengehalten, daß momentane und vorüber-
gehende Situationen der vielgestaltigen internationalen Politik ihm nicht viel anhaben
können. Die Probe als Friedensbürgschaft, die der Dreibund 30 Jahre hindurch be-
standen hat, rechtfertigt diese Hoffnung.
Hie Cürkel. Die bosnische Frage und das Tripolisunternehmen, die Österreich
wie IStalien in Gegensatz zu der uns befreundeten Türkei brachten,
haben den ODreibund nicht schwächen können. Die Beziehungen zur Türkei und zum
Zslam haben wir namentlich seit der Orientreise unseres Kaiserpaares sehr sorgsam
gepflegt. Diese Beziehungen waren nicht sentimentaler Natur, sondern wir hatten
am Fortbestand der Türkei ein erhebliches wirtschaftliches, militärisches und auch po-
litisches Interesse. Die Türkei war für uns in wirtschaftlicher und finanzieller Hinsicht
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