Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
III. Buch. Internationales Privatrecht. 99 
  
auf einen gegebenen Tatbestand in jenen Fällen Anwendung zu finden habe, in denen 
die Anwendung des deutschen Rechtes nicht vorgeschrieben ist. Dieser Art der NRegelung 
hat s. Z. in einer höchst merkwürdigen Wendung der baprische Ministerialrat Schnell 
und später H. Neumann das Wort geredet, mit der Begründung, das ODeutsche 
Reich habe nicht die sachliche Zuständigkeit, den Anwendungsbereich der verschiedenen 
Auslandsrechte gegenseitig abzugrenzen. Diese sog. Theorie der Zuständigkeits- 
erwägung ist von der deutschen Wissenschaft und Prazis überwiegend abgelehnt 
worden. Die Praxis hat jene Art der Regelung nicht als besonders weisheitsvoll, 
sondern als schlechterdings mangelhaft behandelt. Sie hat dementsprechend die 
Lücken so ausgefüllt, wie es auch in anderen Fällen der Lückenhaftigkeit unserer Gesetze 
zu geschehen pflegt, nämlich durch Analogie, d. h. durch Anwendung des der Regelung 
zugrunde liegenden Grundgedankens auf die nicht geregelten Tatbestände. Damit ist 
denn im Ergebnis der Fehler des Gesetzgebers unschädlich gemacht. Die vom Gesetz- 
geber nicht gegebene Rechtssicherheit ist durch Gerichtsgebrauch hergestellt. Es handelt 
sich im einzelnen um folgendes. 
Unser Gesetzgeber hat die Staatsangehörigen des 
Deutschen Reiches in weitestem Maß dem 
deutschen Recht unterstellt, und zwar gleichgültig, 
wo sie sich aufhalten, wo sie wohnen, wo sie sterben. Das ist eine nationale Verbesserung 
des vor 1900 in Deutschland (mit Ausnahme des außerpreußischen französischrechtlichen 
Gebietes) in Geltung gewesenen Rechtszustandes, nach welchem das Recht des Wohn- 
sitzes entscheidend war und nach welchem — ganz widersinnig — häufig deutsche Ge- 
richte ausländisches Recht anzuwenden hatten in Fällen, in denen ausländische Gerichte 
deutsches Recht anwendeten. Unser Gesetzgeber hat nun aber nicht die Konsequenz 
gezogen, auch für Ausländer in den gleichen Beziehungen die Maßgeblichkeit ihres Heimat- 
rechtes vorzuschreiben. Er hat sich, wie man sich fachlich ausdrückt, mit „einseitigen 
Kollisionsnormen“ begnügt, d. h. er hat sich auf eine Regelung bezüglich der Personen 
mit deutscher Staatsangehörigkeit beschränkt, die Ausländer aber überhaupt von der 
RKegelung ausgeschlossen. Dafür ist, wie schon angedeutet, der politische Gedanke maß- 
gebend gewesen, daß man Ausländern Rechtesicherheit nur in der Form von Staats- 
verträgen geben solle. Es scheint dabei aber in der Tat übersehen zu sein, daß nicht 
nur Ausländer an der Rechtssicherheit bezüglich der sich an sie anknüpfenden Rechtsver- 
Hältnisse interessiert sind, sondern sehr oft auch Deutsche. Auch Deutsche können z. B. 
daran interessiert sein, daß Rechtssicherheit hinsichtlich der Gültigkeit von Ausländer-- 
ehen besteht. Die theoretische Begründung der „Zuständigkeitserwägung“ paßt übri- 
gens zu jenem politischen Gedanken keineswegs, denn sie beruht auf doktrindrem Zart- 
gefühl gegenüber anderen Staaten, während der Bismarckische Gedanke auf die Forderung 
eisernen und rücksichtslosen Druckes gegen solche Staaten hinausläuft, welche sich der 
staatsvertraglichen Festlegung der Gegenseitigkeit entziehen. 
Oie deutsche Rechtsprechung hat, wie gesagt, die Lücke durch Anwendung des Staats- 
angehörigkeitsprinzipes auch auf Ausländer ausgefüllt. Es haben sich auch keine nach- 
Rechtsunterstellung nach 
Staatsangehörigkeit. 
  
  
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