62 Innere Politik. 1. Buch.
den. Die Partei, die regieren muß, ist nicht nur verantwortlich für ihr eigenes Wohl-
ergehen, sondern in höherem Maße für Wohl und Wehe der Nation und des Staates.
Partei= und Staateinteresse fallen zusammen. Da es aber auf die Dauer nicht möglich
ist, einen Staat einseitig nach irgendeinem Parteiprogramm zu regieren, wird die Partei,
die an der Regierung ist, ihre Parteiforderungen mäßigen, um den maßgebenden Ein-
fluß im Staat nicht zu verlieren. IZn der Aussicht, selbst regieren zu können und zu müssen,
liegt für die Parteien in parlamentarisch regierten Ländern ein heilsames Korrektio,
das uns fehlt. In nicht parlamentarisch regierten Staaten fühlen sich die Parteien in erster
Linie zur Kritik berufen. Sie fühlen keine nennenswerte Verpflichtung, sich in ihren
Forderungen zu mäßigen, noch eine bedeutende Mitverantwortung für die Leitung der
öffentlichen Angelegenheiten. Da sie die praktische Brauchbarkeit ihrer Meinungen nie-
mals urbi et orbi zu erweisen haben, genügt es ihnen meistens, die Unerschütterlichkeit
ihrer Uberzeugungen zu manifestieren. „Biel UÜberzeugung und wenig Verantwortlich-
keitsgefühl“, so charakterisierte mir einmal ein geistreicher Journalist unser deutsches
Parteileben und fügte hinzu: „Unsere Parteien fühlen sich ja gar nicht als die Schau-
spieler, die das Stück aufführen, sondern mehr als zuschauende Rezensenten. Sie teilen
Lob, sie teilen Tadel aus, fühlen sich aber selbst an den Vorgängen eigentlich nicht un-
mittelbar beteiligt. Die Hauptsache ist, für die Wähler daheim ein kräftiges und möglichst
willkommenes Urteil zu liefern.“
Als ich einmal während des Burenkrieges im Couloir des Reichstages einem Ab-
geordneten Vorstellungen wegen seiner Ausfälle gegen England machte, die nicht eben
geeignet waren, unsere damals an sich schwierige Stellung zu erleichtern, erwiderte mir
der treffliche Mann mit dem Brustton wahrer Uberzeugung: „Als Abgeordneter habe ich
das KRecht und die Pflicht, den Gefühlen des deutschen Volkes Ausdruck zu geben. Sie als
Minister werden hoffentlich dafür sorgen, daß meine Gefühle im Auslande keinen Schaden
anrichten.“ Ich glaube nicht, daß eine solche Außerung, deren Naivität mich entwaffnete,
anderswo als bei uns möglich wäre.
Politischer Verstand und Wenn vor den Staateinteressen rechtzeitig halt ge-
politisches Gefühl. macht wird, ist an sich gegen Gefühlsäußerungen in
der Politik gar nichts zu sagen. Sie gehören zu den
Imponderabilien im politischen Leben, die ein Bismarck hoch bewertete. Das Volks-
empfinden hat gerade in Deutschland die vorgefaßten politischen Meinungen oft recht heil-
sam korrigiert. In der auswärtigen Politik sind Gefühle, Sympathien und Antipathien
unzulängliche Wegweiser, und wir wären nicht weit gekommen, wenn unsere leitenden
Staatsmänner bei Gestaltung der auswärtigen Beziehungen das Herz anstatt des Ver-
standes um Rat gefragt hätten. Auf dem Gebiet der inneren Politik liegt es anders.
Gerade für uns Deutsche. Da könnte man versucht sein, dem Gefühl, dem gesunden poli-
tischen Empfinden größeren als den vorhandenen Einfluß zu wünschen, dem politischen
Verstande geringeren. Denn die Wirkung unseres deutschen politischen Verstandes ist
nicht Maßhalten in den parteipolitischen Wünschen, nicht Anpassung der politischen
Forderungen an die gegebenen Tatsachen. Unser politischer Verstand drängt auf
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