Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

  
72 gnnere Politik. I. Buch. 
  
niemals die Gefahr bestand, sie könnte durch den Einfluß, den er einer jeweilig vorgefun- 
denen Mehrheit einräumte, auch nur zu einem kleinen Teil auf das Parlament über- 
gehen. Vor allen Dingen dachte er gar nicht daran, den Willen einer Mehrheit dann 
gelten zu lassen, wenn er ihn mit seinem Willen nicht vereinbar fand. Er machte sich vor- 
handene Mehrheiten zunutze, ließ sich aber nicht von ihnen benutzen. Gerade Bismarck 
verstand es meisterhaft, sich oppositioneller Mehrheitsbildungen zu entledigen und sich 
selbst Mehrheiten zu schaffen, die sich den Zielen seiner Politik fügten. Vor die Wahl 
gestellt, sich ein wichtiges Gesetz von der gerade ausschlaggebenden Mehrheit verpfuschen 
zu lassen, oder den unbequemen Kampf um eine Veränderung der Mehrheitsverhältnisse 
aufzunehmen, hat er niemals gezögert, das zweite zu wählen. Er zog Vorteil aus der 
Möglichkeit, sich von Fall zu Fall Mehrheiten zu nehmen, aber er war der letzte, sich den 
von Fall zu Fall zusammenkommenden Mehrheiten zu unterwerfen. Man soll auch in 
dieser Beziehung den Namen Bismarcks nicht mißbrauchen. Bismarck kann nur für eine 
starke, entschlossene, ja rücksichtslose Führung der NRegierungsgeschäfte Eideshelfer sein, 
nicht für eine gefügige, nachgiebige, die den Parteien größere Rechte einräumt, als ihnen 
zukommen. 
Bequemerr ist es ja zweifellos, zuzusehen, wie sich für ein Gesetz so oder so eine Mehr- 
heit findet, anstatt zu sehen, wie man ein Gesetz durchsetzt, so wie es die Regierung für 
richtig, für segensreich hält. Der Modus, ein Gesetz sozusagen auf den Markt zu werfen 
und an den Meistbietenden loszuschlagen, ist nur angängig, wenn eine Regierung so stark 
und zugleich so geschickt ist, wie es die Bismarcks war. Vor allem darf es nur geschehen, 
wenn das Gesetz selbst von der Mehrheit auch in der von der Regierung gewünschten 
und vorgeschlagenen Form angenommen wird, wenn die Regierung führt. Läßt sie 
sich führen, so wird sie nur zu leicht erleben, daß ihr Gesetz im Hader der Parteien beim 
gegenseitigen Feilschen der Mehrheitsparteien bis zur Unkenntlichkeit entstellt, und ganz 
etwas anderes, wenn nicht gar das Gegenteil von dem erreicht wird, was die Regierung 
eigentlich erreichen wollte. Auf solche Weise stellen sich die Mehrheiten nicht von Fall 
zu Fall den Gesetzen, die die Regierung einbringt, zur Verfügung, sondern die Re- 
gierung überläßt ihre Gesetze von Fall zu Fall den Mehrheiten zur beliebigen Verwen- 
dung und Umformung. Indem die Regierung tut, als ob sie über den Parteien stünde, 
gleitet sie in Wahrheit unter die Füße der Parteien. 
Gerade die Notwendigkeit, angesichts der deutschen Parteiverhältnisse ab und zu 
mit den Mehrheiten zu wechseln, verlangt eine starke Hand in der Führung der Regierungs- 
geschäfte. Für die Ewigkeit kann keine Regierung mit einer und derselben Mehrheit 
arbeiten. Das scheitert am Verhältnis der Parteien zueinander, scheitert am Doktri- 
narismus der meisten Parteien, an ihrer Neigung, von Zeit zu Zeit aus Gründen der 
Popularität in die Opposition zu treten, endlich an der Vielfältigkeit der Negierungs- 
aufgaben, die nur zu einem Teil mit einer bestimmten Mehrheit zu erfüllen sind. Im 
Interesse einer möglichst allen Teilen der Nation gerecht werdenden Politik ist es auch 
nicht gut, wenn sich eine der Parteien, mit denen sich überhaupt positiv und im Staats- 
interesse arbeiten läßt, der Mitarbeit fernhält. Den Parteien ist es heilsam, wenn sie 
an der gesetzgeberischen Arbeit teilnehmen. Parteien, die dauernd in der Opposition 
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