Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Zweiter Band. (2)

  
VI. Buch. Der auswärtige Handel. 243 
  
den neuen Besitzern von landwirtschaftlichen Gütern eine den gestiegenen Getreidepreisen 
entsprechende Rentabilität vorenthielt. 
Schließlich muß noch darauf hingewiesen werden, daß die Getreidepreise nicht der 
allein ausschlaggebende Faktor für die Landwirtschaft sind. Die lleineren und mitt- 
leren landwirtschaftlichen Betriebe sind an den Getreiderpeisen unmittelbar weniger 
interessiert, mittelbar sogar vielfach derart, daß ihnen an niedrigen Preisen gelegen sein 
muß, da das Schwergewicht ihrer Produktion auf den Gebieten der Biehzucht, der 
Milchwirtschaft, des Gemüsebaues, der Geflügelzucht usw. liegt. Mit Rücksicht hierauf 
hat die Caprivische Politik aber zweifellos eine günstige Wirkung gehabt, denn die zu- 
nehmende Industrialisierung des deutschen Volks hat die Konsumenten der bäuer- 
lichen Wirtschaft nicht nur vermehrt, sondern auch kaufkräftiger gemacht. Der gutbe- 
zahlte Industriearbeiter mit seinem starken Konsum an animalischen Produkten darf 
geradezu als eine Stütze des bäuerlichen Betriebes angesprochen werden. Die Erhal- 
tung und Kräftigung des landwirtschaftlichen Klein- und Mittelbetriebes hat sich in 
Oeutschland in engster Wechselwirkung mit der industriellen Entwicklung vollzogen und 
wäre ohne diese niemals möglich gewesen. Bei einer Gesamtwürdigung der Ara Cap- 
rivi darf solcher Zusammenhang nicht aus dem Auge gelassen werden. Das Verständ- 
nis für jene vielumstrittene handelspolitische Epoche ist erst dann gegeben, wenn dieser 
Zusammenhang zwischen Industrie und Landwirtschaft richtig gewürdigt wird. Sobald 
dies geschieht, wird man Sch moller zustimmen, wenn er sagt: „Mögen die Handels- 
verträge von 1891—1894 nicht in jeder Beziehung vollkommen gewesen sein, hätte man 
vielleicht besser den Tarif vorher revidiert, hätte man für die Verhandlungen besser vor- 
bereitet sein können, im ganzen waren sie doch eine rettende Tat.“ 
Alles in allem wird das Urteil dahin zusammenfaßt werden 
dürfen, daß die Caprivischen Handelsverträge in 
erster Linie für Industrie und Handel von fruchtbringender Beden- 
tung geworden sind, indem sie gewissermaßen die Grundlage schufen, auf der die 
innerlich notwendig gewordene Entwicklung Deutschlands zum überwiegenden In- 
dustriestaat sich beharrlich und folgerichtig vollziehen konnte. Daneben aber haben sie 
mittelbar die bäuerliche Wirtschaft gekräftigt, d. h. deren Absatzgebiet und Produktions- 
sphäre erweitert. Für die körnerbauende Landwirtschaft hingegen bedeuteten sie zu- 
nächst eine Verschärfung des durch internationale Marktverhältnisse bedingten Preis- 
sturzes. Diese Wirkung war jedoch nur vorübergehend, da das Anziehen der Weltmarkt- 
preise von Mitte der 90er Fahre ab eine ausgesprochene Besserung der Lage herbei- 
führte. Ob freilich die später erzielten Preise im Einklang standen mit den erhöhten 
Boden- und sonstigen Produktionskosten, darf bezweifelt werden. Wenn es im übrigen 
als erwünscht erachtet wird, daß im Gegensatz zu den Industrieerzeugnissen die Preis- 
bewegung des Getreides möglichst gleichmäßig verläuft, — ein Problem, das hier nicht 
zu erörtern ist — so wird dies Ziel durch einen langfristigen Tarifvertrag mit festen Sätzen 
überhaupt nicht zu erreichen sein. Es könnte dies nur geschehen entweder durch einen 
autonomen Tarif, der den Schwankungen der Preise entsprechend ständig geändert würde, 
Zusammenfassung. 
  
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