384 Die Arbeiter-Sozialpolitik. VI. Buch.
Graf Ballestrem, Berichterstatter: Generalsekretär Hitze) dehnten sich, durch die Herbst-
ferien unterbrochen, bis in den folgenden Winter aus. Die 2. und 3. Lesung forderte
noch 28 Sitzungen (bis zum 6. Mai). Am 1. Juni 1891 wurde das Gesetz publiziert.
ODie Vertretung des Gesetzentwurfs fiel vor allem dem preußischen Handelsminister Freiherrn von Ber-
lepsch zu, der sich dieser Aufgabe unter Einsetzung seiner ganzen Person mit einer großen Sachkunde und
glänzender Beredsamkeit widmete, während Staatssekretär von Bötticher sich zurückhielt. Wirksamste Unter-
stützung fand von Berlepsch durch seine Räte: Ministerialdirektor Dr. Lohmann, der schon seit JZahrzehnten
persönlich ein warmer Freund des Arbeiterschutzes war, Dr. Koenigs, der schon als Assessor und Kegierungs-
rat in Hüsseldorf seit einem Zahrzehnt mit großem Erfolg neue soziale Wege gebahnt hatte, Dr. Wilhelmi usw.
Der Gesetzentwurf war leider mit einer Reihe von Be-
stimmungen belastet worden, die nicht mit Unrecht als
„Arbeitertrutz“-Bestimmungen charakterisiert wurden. Sie bezweckten die Verschärfung
und Ausdehnung der Strafbestimmungen gegen den Mißbrauch des Koalitionsrechts
(SO. 5 152), während des Schutzes des Koalitionsrechtes ganz vergessen war. Der Reichs-
tag lehnte sie mit großer Mehrheit ab, und erfreulicherweise wurde der Entwurf auch
ohne diese Bestimmungen von den verbündeten Regierungen glatt angenommen. Dieser
Geist großzügiger vertrauender Politik kam noch mehr darin zum Alusdruck,
daß von einer Erneuerung des Sozialistengesetzes — wenn auch in noch so ab-
geschwächter Form — ganz abgesehen wurde.
Der Unterdrückungspolitik stellte der Kaiser die Politik des Vertrauens und der
Versöhnung gegenüber. Erst sollte der ernste Versuch gemacht werden, durch eine um-
fassende spstematische Sozialreform die arbeitenden Klassen zu gewinnen und mit der
bestehenden Gesellschaftsordnung auszusöhnen, um erst dann, wenn dieser Weg ver-
sage und trotz allem es zu Gewalttätigkeit und Aufstand komme, zum Schwert zu
greifen. Darin lag der große, edle Zug der kaiserlichen Sozialpolitik. „Ob wir nun
Dank oder Undank für unsere Bestrebungen für die Aufbesserung des Loses der arbeiten-
den Klassen ernten“ — so hatte er Herrn von Eynern gegenüber erklärt, — „in diesen
Bestrebungen werden wir nicht erlahmen. Ich habe die Überzeugung, daß
diese staatliche Fürsorge uns zu dem Ziele führen wird, die arbeitenden
Klassen mit ihrer Stellung innerhalb der gesellschaftlichen Ordnung zu
versöhnen. Zedenfalls geben mir diese Bestrebungen für alles, was wir
tun, ein ruhiges Gewissen.“ (Wippermann, Geschichtskalender 1890, II. S. 112.)
Das waren Worte, eines Hohenzollern würdig! Erst der Appell an die Herzen, und
wenn dieser versagt, der Appell an das Schwert!
Politik des Vertrauens.
Durchführung und weiterer Ausbau der Arbeiterschutzgesetzgebung.
Die Durchführung der Arbeiterschutz-
Novelle vollzog sich glatt. Die Befürch-
tungen bezüglich unserer indufstriellen Entwicklung haben sich absolut nicht erfüllt. Trotzdem
die anderen Staaten erst später und durchaus nicht gleichmäßig uns folgten, hat Deutschland
Durchführung des Arbeiterschutzes.
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