422 Das Bevölkerungsproblem. VI. Buch.
Augenblicklich haben ja die katholischen Provinzen noch wesentlich höhere Frucht-
barkeitsziffern als die protestantischen — man vergleiche die über 180 Westpreußens
und Posens mit den nur 119 Hessen-Nassaus! —, aber auf die „schiefe Ebene“ sind auch
sie bereits geraten. Ebenso geht auch die Fruchtbarkeit des Landes, nicht bloß die
der Städte zurück, wie wir gleichfalls der preußischen Statistik entnehmen können. Auf
1000 weibliche Personen im Alter von über 15 bis 45 Jahren entfielen durchschnittlich
jährlich lebend Geborene: "
in den ZLahren in den Städten auf dem Lande
1876/80 160,6 182,9
1891/95 140,7 181,9
1901/05 129,1 178.7
1906/10 117,.6 168,8
Bis 1905 „hielt“ sich also das Land einigermaßen. Seitdem ist der
Rückgang der Geburten kein wesentlich geringerer mehr als in den Städten.
Das Land beginnt sich offensichtlich die städtischen Sitten anzueignen, wennschon es
noch immer von einer um 43,5 % stärkeren Fruchtbarkeit ist.
Schließlich stellt auch die Zugehörigkeit zur slavischen Rasse in Deutschland keinen
Damm gegen den Geburtenrückgang dar, wie ein Vergleich von Westpreußen und
Posen mit rein deutschen Provinzen lehrt. Der Rückgang ist — absolut gesehen —
in den polnischen Landesteilen nur um ein weniges geringer als in Ostpreußen und in
der Rheinprovinz.
So sehen wir also die Geburten allerwärts, bei Deutschen und Polen, Katholiken
und Protestanten, in Stadt und Land den Rückgang aus den bisherig innegehabten
Positionen antreten. Wo der Rückgang enden wird, ist nicht zu erkennen.
Die Frage, ob diese Aussicht als erfreulich
oder unerfreulich anzusprechen ist, fällt aus
dem Rahmen des Bevölkerungsproblems, wie
es hier gedacht und zur Bearbeitung gestellt ist. Wenn ihr doch einige Worte gewidmet
werden sollen, so mag kurz gesagt sein, daß sozial gegen den Geburtenrückgang, wenn er
sich in Grenzen hält, nichts einzuwenden sein würde, national dagegen die kommende
Entwicklung zweifellos Gefahren in sich birgt. Hauptsächlich ist das der Fall mit Rücksicht auf
die Vermehrungstendenz der Bevölkerung Rußlands, welche der Rationalisierung noch auf
längere Zeit hinaus verschlossen bleiben dürfte. Der Bevölkerungsvorsprung Ruß-
lands gegen Deutschland, heute schon volle hundert Millionen, hat die Aussicht der Ver-
doppelung in absehbarer Zeit. Und wenn auch die Interessensphären Rußlands und
Deutschlands vorläufig sich nicht eigentlich kreuzen, kann das doch in der Zukunft, zumal
wenn die Produktiokräfte Chinas zur Entfaltung kommen, und bei anderen Gelegen-
heiten der Fall sein, wenn Deutschland Weltmacht bleiben will.
Durch den Geburtenrückgang erwachsen den zur Wahrung des nationalen Inter-
esses berufenen Faktoren sonach ernste Aufgaben. Das Wichtigste hat freilich als ver-
säumt zu gelten, denn nach dem Satz „Principüs obsta“ wäre das Mögliche vorzukehren
Zur Würdigung der kommenden
Entwicklung.
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