48 Die evangelische Kirche und Cheologie. VIII. Buch.
liche Dogmen kennt, aus seinem innersten Wesen heraus eine beständige Kritik, Nevision
und Weiterbildung des Dogmas. Die evangelische Lehre wird nie fertig. Es ist unzu-
lässig, daß solche, die das ignorieren, sich in besonderem Maße als Erben der Refor-
mation fühlen.
Hinfälligkeit der äußeren Grund- Aber auch die äußeren Bedingungen
lagen der altprotest. Kirchenform. der Wiederherstellung der altprotestanti-
schen Kirchenform: der konfessionelle Staat
oder die Staatskirche in optima forma, die ungebrochene Kirchen- und Lehrzucht
und die Herrschaft der Kirche über die Schule sind nahezu verloren gegangen. Mit
der grundsätzlichen Trennung von Staat und Kirche, der Durchführung der Parität
im Staatsleben, der Emanzipation der Schule von der Kirche, der Zidilstandsgesetz-
gebung und Freizügigkeit, der Freiheit der Wissenschaft und Forschung auf den Uni-
versitäteen und der fortschreitenden Erweichung der Lehrzucht sind allerdings die äußeren
Bedingungen für die Existenz der Kirche in jener alten Form dahingefallen. Die Reste,
welche davon hie und da noch übrig geblieben sinb (am meisten wohl in Mecklenburg),
reichen zu einer Wiederherstellung des Alten nicht aus und sind überdies im Schwinden
begriffen. Nur eine radikale politische Keaktion könnte der alten Kirchenform wieder zu
ihrem alten Dasein verhelfen.
Angesichts dieser Lage der Dinge muß die Kirchenpolitik derer, welche alles Heil
der Kirche darin sehen, daß möglichst viel von diesen Resten gerettet wird, kurzsichtig
genannt werden. Ebenso aber diejenige derer, welche sich eine Repristination der
Bekenntniskirche von noch weiterer oder sogar vollständiger Trennung der Kirche
vom Staate versprechen.
Keine Verfassungsänderungen. Geistige Entwicklungen lassen sich durch Ver-
fassungsänderungen ganz gewiß nicht
zurückdämmen, am wenigsten auf dem religiösen Gebiete. A#uch in die Freikirchen und
Sekten dringt, wie das Beispiel Amerikas und Englands zeigt, der moderne Geist unauf-
haltsam ein. Er wird, wie man schon jetzt deutlich beobachten kann, auch vor den deut-
schen Freikirchen nicht haltmachen. Za, auf freikirchlichem Boden werden die Gegen-
sätze noch viel schärfer aufeinanderstoßen, die Kämpfe noch viel heftiger entbrennen,
als da, wo der Staat mit seinen moderierenden Einflüssen hinwirkt.
Keine weitere Trennung Die völlige Trennung der Kirche vom Staat
von Kirche und Staat. würde zu einer Menge von privaten Kirchenbildungen
führen und damit die religiöse und konfessionelle Zer-
rissenheit Deutschlands noch vergrößern, das politische Leben erschweren. Den Vorteil
davon würde nur Rom und der Moniemus haben. ODer Staat aber hat sicherlich kein
Interesse an einer noch weiteren Zerklüftung des Protestantismus. Die reformatorische
Kirche aber, in lauter einander befehdende Teile aufgelöst, würde nicht nur ihre ma-
terielle, sondern auch ihre volkskirchliche Aufgabe nicht mehr erfüllen können. Das Band,
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