VIII. Buch. Oie evangelische Kirche und Theologie. 51
niskirche bleiben muß und kann. Insofern nämlich, als sie sich als Ganzes und in ihren
einzelnen Gliedern und Dienern stets von neuem zu jenem Lebensprinzip der Reforma-
tion, zu ihrer ursprünglichen Heilserfahrung in Zesus Christus und damit zu der
Kraft bekennt, die auch ihr Leben hervorbringt und trägt. Diesen und keinen anderen
Sinn hat das „bekennen“ und „Bekenntnis“ sowohl im Urchristentum als auch in
der Reformation gehabt, aber in der Epigonenzeit ist er verloren. Zu diesem ursprüng-
lichen Sinn des Bekenntnisses sollen wir zurückkehren.
Damit ist auch der künftigen Bekenntnisverpflich-
tung der Weg gewiesen. Uber den Sinn solcher Ver-
pflichtung wird gegenwärtig heiß gestritten. Klar ist
zweierlei, einmal, daß keine Kirche ohne Bekenntnis und Bekenntnisverpflichtung bestehen
kann. Sodann, daß eine Verpflichtung im alten Sinn, d. h. eine Verpflichtung auf den
gesamten Lehrinhalt eines Corpus doctrinae heutzutage unmöglich ist. Ein ehrlicher Aus-
weg aus diesem Dilemma ist nur möglich, wenn die Verpflichtung das Bekenntnis zu
dem reformatorischen Grunderlebnis bedeutet, mit dessen nicht irrtumsloser Deu-
tung sich die einzelnen Glaubensartikel beschäftigen. Hinter dieser tieferen Auffassung der
Bekenntnisverpflichtung bleiben solche Verpflichtungsformeln zurück, welche anstatt des
vollen Tenors der reformatorischen Heilserfahrung einzelne, noch dazu willkürlich aus-
gewählte „Glaubensartikel“ enthalten.
Neuer Sinn der
Bekenntnisverpflichtung.
Schranke in der Verpflichtung. Ein solches Bekenntnis zu den Lebensprinzipien
der Reformation, wie es in der evangelischen
Kirche zum wenigsten jedem Amtsträger muß zugemutet werden können, begründet auch
ein bestimmtes Maß von gemeinsamer Erkenntnis, welches den Nadikalismus und No-
nismus von selber ausschließt. Es enthält, wiewohl nicht in erster Linie lehrhafter Art,
doch eine deutliche Begrenzung der Lehrfreiheit, die nicht überschritten werden
darf. Andererseits aber läßt sie den dogmatischen Spielraum, den der einzelne auf
reformatorischem Boden beanspruchen kann. Der Radikalismus wird sich eher mit einer
Formel, die den Lehrgehalt, als einer solchen, die den Lebensgehalt der Reformation
zum Ausdruck zu bringen sucht, abfinden. Zene kann er leichter umdeuten als diese. Ein
unfehlbares Mittel aber, andersgläubige Bewerber mit Sicherheit von den kirchlichen
Amtern fernzuhalten, hat nicht einmal die strengste Form der Konfessionskirche gefunden.
Es kann also auch der modernen Kirche billigerweise nicht zugemutet werden.
Allerdings wird es nicht die Aufgabe der
modernen Kirche sein können, dem theo-
logischen und kirchlichen Liberalismus das Heimatsrecht zu wehren. Eine doppelte
Erkenntnis bricht sich in dieser Beziehung immer mehr auch in positiven Kreisen Bahn.
Einmal, daß „positiv“ und „liberal“ keineswegs gleichbedeutend ist mit „gläubig“ und
aungläubig“. Sodann, daß die evangelische Kirche dem Liberalismus außerordentlich
viel zu danken hat. Er ist der Träger eines für den Protestantismus völlig unentbehr-
Spielraum in der Verpflichtung.
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