Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Dritter Band. (3)

Philosophie. 
Von Prof. Dr. O. Külpe, Bonn. 
Bielleicht auf keinem anderen Gebiete der Wissenschaft ist die Anderung des Inter- 
esses und der Teilnahme weiter Kreise in den letzten 25 Jahren deutlicher und größer 
hervorgetreten, als auf dem der Philosophie. Das zeigt sich nicht nur in der wachsenden 
Zahl derer, die sich ihr zuwenden, nicht nur in dem steigenden Bedürfnis nach philo- 
sophischen Schriften und Vorträgen, sondern auch in der Richtung und Haltung der 
Einzelwissenschaften, deren Vertreter mit Vorliebe den grundlegenden Fragen, den 
methodologischen Problemen nachgehen und dadurch in nächste Beziehungen zur philo- 
sophischen Forschung kommen. Dabei sind es keineswegs bloß die einer strengeren, 
exakten Behandlung zugänglichen Aufgaben, die das Interesse der Allgemeinheit auf 
sich ziehen. Welt- und Lebensanschauung, Metaphysik und Ethik finden vielmehr, nach- 
dem der Glaube an ihre Möglichkeit und Wirksamkeit lange unterbunden war, wieder 
dankbare und eifrige Anhänger und werden auf verschiedenen Wegen gepflegt und 
bearbeitet. 
Rackblick. So darf man heute wieder von einem philosophischen Zeit- 
— 2 alter reden. Damit wendet sich von selbst der Blick zu der 
Klassische Periode. nassischen Perlode vor hundert Zahren zurac, in der die 
Kunst am Werk war, sich mit einer kongenialen Philosophie zu vermählen und im 
Bunde mit ihr die lebendigsten und gehaltvollsten Bedürfnisse geistiger Kultur zu be- 
friedigen. Damals waren die Einzelwissenschaften noch unabgeschlossen und für speku- 
lative Ergänzungen durch tiefsinnige Deutung empfänglich. In der Optik konnten noch 
Goethes unphpsikalische Ansichten mit Erfolg der klaren und exakten Lehre Newtons 
entgegentreten. Die Medizin war ein Tummelplatz von Bersuchen und Widersprüchen, 
so daß Fechner in einer geistreichen Satire den Satz: jedes Mittel heilt alle Krankheiten, 
und jede Krankheit wird von allen Mitteln geheilt, als die ideale Kegel hinstellen konnte, 
nach deren Erfüllung die Therapie seiner Zeit strebe. Das Interesse der Bildung über- 
wog alle anderen, und diesem Znteresse konnte nur durch eine absolute Philosophie 
vollkommen genügt werden. 
Als Kant sein Werk vollbracht hatte, da schien seinen ersten Nachfolgern nur noch 
die Ergänzung zum Spstem, die tiefere und einheitlichere Begründung seiner Lehren 
erforderlich zu sein. Es galt den unausgeglichenen Dualismus der Erscheinung und des 
Dinges an sich, der rohen Erfahrung und des Erkenntnisvermögens, der Sinnlichkeit 
  
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