Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Dritter Band. (3)

  
4 Philosophie. X. Buch. 
  
und des Verstandes, der theoretischen und der praktischen Vernunft zu überwinden. Die 
letzte Zusammenfassung fehlte dem Ganzen und manchen Stücken seiner Philosophie. 
Nachdem der vereinheitlichende Abschluß gefunden war, nachdem K. L. Reinhold den 
Satz des Bewußtseins als Grundlage der transzendentalen #sthetik und Logik, nachdem 
J. G. Fichte eine allgemeine Wissenschaftslehre als Grundlage der Kritik der reinen 
und der praktischen Vernunft vorangestellt hatten, glaubten sie den Leser ihrer Schriften 
dort absetzen zu können, wo Kant anhob. 
Diese Stimmung hielt freilich nicht lange vor. Kant selbst wehrte sich 1799 in einer 
geharnischten Erklärung gegen den Anspruch Fichtes, ihn zu unterbauen, obwohl er die 
Wissenschaftslehre nie gelesen hatte, und Fichte nannte ihn daraufhin einen Dreiviertels- 
kopf und hat die späteren Darstellungen der Wissenschaftslehre unabhängiger gestaltet. 
Seine Nachfolger vollends hatten bereits ein ganz anderes Verhältnis zu Kant, indem 
sie Fichtes Obe#lismus zu einem objektiven und absoluten auszubauen suchten. Schelling 
schreibt, Kant lebe der seligen Einbildung, das Zeitalter stehe noch da, wo es gerade 
vor zehn Jahren gestanden hat, nämlich beim Nachbeten der Kritik, und glaube, die 
Kritik hätte nicht nur für jetzt, sondern für alle folgenden Zeitalter die Herkulessäulen 
des Denkens errichtet. Dabei wurde namentlich auch die allzuschmale einzelwissenschaft- 
liche Basis der Kantischen Philosophie verbreitert, indem die empirische Naturwissen- 
schaft und die Geisteswissenschaften Berücksichtigung fanden. Schon Kant selbst hatte 
noch in seinen letzten Lebensjahren von seiner Philosophie aus den Ubergang zur empi- 
rischen Naturlehre herzustellen versucht, ohne über Anläufe und unklare Wendungen 
hinauszukommen. Hier setzte Schelling mit seiner Naturphilosophie ein, die gerade 
die Phpsik, Chemie und Biologie in sich aufzunehmen und zu einem System des sich 
entwickelnden Universums zu verarbeiten wußte. Dazu trat Hegel mit ausgesprochen 
historischen und politischen Interessen und mit der Richtung auf den absoluten Geist 
als letzte und höchste Tendenz des Alls. So entstand eine Philosophie, die im Prinzip 
als abgeschlossen gelten konnte, ein Inbegriff voll entfalteter Weisheit auf allen Ge- 
bieten menschlicher Einsicht, die Krone der Bildung und Kultur jenes von Kriegen zer- 
rütteten und hernach in Ueinbürgerliches Stillleben versunkenen Zeitalters. Schon 1801 
prophezeit Schelling: es wird fortan nur ein Gegenstand sein, und nur ein Geist, ein 
Erkennen, ein Wissen dieses Gegenstandes. 
Keine andere philosophische Erscheimnung, weder Herbarts vorsich- 
tige und strenge Metaphysik, noch Schopenhauers phantasievoll 
ausgeführte Weltanschauung, konnte sich damals eine allgemeinere Beachtung erringen. 
Sie kamen erst auf, als die Auflösung der Hegelschen Schule und der Schiffbruch der 
absoluten Philosophie an den Methoden und Ergebnissen der Einzelwissenschaften voll- 
endete Tatsachen geworden waren. Aber zu der glänzenden, unbestrittenen Herrschaft 
über die Geister, wie sie Hegel ausgeübt hatte, haben sie es auch später nicht gebracht, 
so sehr sich an Herbart die zünftigen und an Schopenhauer die dilettierenden Philo= 
sophen anschlossen. Mit dem Bann der absoluten Philosophie schien überhaupt der 
maßgebende Einfluß aller Philosophie aufgehoben zu sein. Auch Denker wie Fechner 
Niedergang. 
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