X. Buch. Soologie. 197
Wenn auch die Deszendenztheorie zu unserer Zeit nicht mehr die gleiche beherrschende
Stellung in der Zoologie einnimmt wie vor einigen Jahrzehnten, so braucht kaum her-
vorgehoben zu werden, daß eine Lehre, die wie selten eine andere in hohem Maße be-
fruchtend und fördernd auf die Entwicklung weiter Wissenskreise eingewirkt hat, alsbald
versagen würde, auch wenn sie in einzelnen ihrer Lehrsätze stark angefochten und in ihren
Fundamenten zu erschüttern gesucht wird, wie dies in letzter Zeit von mancher Seite
geschah. Die Abstammungs- und Entwicklungslehre selbst ist jedenfalls viel zu fest be-
gründet, als daß sie darunter einen wesentlichen Schaden leiden sollte.
Veränderlichkeit der Art, Von großem allgemeinen Znteresse sind gewisse mit
diesen Fragen im Zusammenhang stehende Bestrebun-
Variation, Mutation. gen der letzten Jahrzehnte. In der Selektionstheorie
spielt die Veränderlichkeit der Art eine wichtige Nolle und bei den Versuchen, die Ursachen
zu ergründen, auf denen sie beruht, kam man dazu, gewisse Beobachtungen, die auch Dar-
win bereits bekannt waren, weiter zu verfolgen und eingehender zu untersuchen. Im all-
gemeinen scheint die Veränderlichkeit einer Tier- oder Pflanzenart auf unbedeutenden
Verschiedenheiten ihrer Merkmale zu beruhen, welche aber durch die fortgesetzte Verer-
bung verstärkt zu einer allmählichen Abänderung der Art führen können. Demgegenüber
legte man neuerdings auf die auch schon von Darwin und anderen behandelte sogenannte
sprungweise Variation ein größeres Gewicht, bei welcher unvermittelt starke Verschieden-
beiten auftreten und weiter vererbt werden. Derartige plötzlich erscheinende, nicht die
unbedeutenden („oszillierenden“ oder „fluktuierenden") Variationen sollten zur Bildung
neuer Arten führen. Diese in besonders energischer Weise von De Bries vertretene, in
seiner „Mutationstheorie“ ausgebaute und eingehend begründete Anschauung hat
viel Anklang, aber auch manchen Widerspruch gefunden.
Oie Frage, ob Mutation oder fluktuierende Variation bei der Artbildung die
Hauptrolle spielt, tritt bei den durch längere Zeiträume an verschiedenen Pflanzen und
Tierarten fortgeführten Variations- und Vererbungeversuchen immer wieder hervor.
Oiese interessanten und wichtigen Versuche wurden unter genauer Berücksichtigung der
Lebensverhältnisse der betreffenden Organismen ausgeführt und bei ihrer Beurteilung
gelangten die variationsstatistischen Methoden zur Berwendung, was ihnen einen be-
sonderen Wert verleiht. Die Forscher, welche sich nach dieser Richtung besondere Ver-
dienste erwarben, können ebensowenig wie bei den vorhergehenden Ausführungen nam-
haft gemacht werden, doch sei hier wie in Beziehung auf das Folgende immerhin an
die Namen von Galton, Quetelet, Pearson, Johannsen, Bateson, Davenport
erinnert.
Abändern der Art auf Wenn von Variabilität die Rede ist, dürfen auch die
wichtigen Versuche nicht unerwähnt bleiben, welche nach
dieser Richtung ebenfalls an verschiebenen Tierarten
angestellt wurden. Aus Weismanns Studien zur Deszendenztheorie ist schon längst be-
kannt, daß man gewisse Schmetterlingsarten (z. B. das sogenannte Landkärtchen, Vanessa
exzperimentellem Wege.
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