X. Buch. Zoologie. 201
hier zu behandelnden Zeitraum innerhalb und außerhalb Deutschlands damit be-
schäftigten, eine außerordentlich große ist. Die Ergebnisse findet man in den beiden
kürzlich erschienenen Büchern von V. Haecker (Allgemeine Vererbungelehre, 2. Aufl.,
Braunschweig 1912) und R. Goldtsch midt (Einführung in die Vererbungswissenschaft,
Leipzig 1911) niedergelegt.
Geschlechtsbestimmung. Dem soeben besprochenen Kreis der Erscheinungen
steht ein anderes in der letzten Zeit ebenfalls mit
Eifer und Erfolg bearbeitetes Problem, nämlich das der Geschlechtsbestimmung
und Geschlechtsdifferenzierung sehr nahe, welches sich ähnlich wie die Ver-
erbungsfrage, wenn auch nicht in so hohem Maße der Teilnahme weiterer Kreise
erfreut. Auch bei ihm greifen mikroskopische Beobachtung (der Keimzellen) und Züch-
tungsversuche ineinander, doch kommt noch eine andere Untersuchungsmethode, näm-
lich die Ubertragung der Keimdrüsen von dem einen auf das andere Individuum,
binzu, um diese Frage ihrer Lösung entgegenzuführen. Was die schon seit langem und
leider nicht mit besonderem Erfolg behandelte Frage der Geschlechtsbestimmung an-
betrifft, so hat man dafür neuerdings einzelne Kernschleifen der Geschlechtszellen ver-
antwortlich gemacht, welche sich möglicherweise durch ihre Beschaffenheit vor den anderen
Chromosomen der betreffenden Kerne auszeichnen (Heterochromosomen) oder jedenfalls
in der Uberzahl vorhanden sind. Das überzählige Chromosoma, dessen Teilung unter-
bleibt und das also vollständig auf die Tochterzelle übertragen wird, dürfte die Veran-
lassung sein, daß zweierlei Spermatozoen gebildet werden, die für die Geschlechtsbe-
stimmung von Bedeutung sind. Es ist nämlich mit ziemlicher Sicherheit anzunehmen,
daß je nach dem Fehlen oder Vorhandensein des betreffenden Chromosoma bei dem die
Befruchtung vollziehenden Samenfäden die aus den betreffenden Eiern hervorgehenden
Tiere männlichen oder weiblichen Geschlechts sind. Es liegt aber kein Grund dafür vor,
daß die Geschlechtsbestimmung gerade von den Spermatozoen ausgehen muß, sondern
es ist ebensowohl denkbar, daß ähnliche Verhältnisse bei den weiblichen Keimzellen vor-
liegen und bei deren Reifung zu einer entsprechenden, für die Geschlechtsbestimmung
maßgebenden Verteilung der Chromosomen führen. Sogenannte weibliche und männ-
liche Eier, d. h. solche, aus denen nur Weibchen entstehen und andere, die sich zu
Männchen entwickeln, sind außerdem von verschiedenen Tieren bekannt.
Zur Prüfung des Problems der Ge-
schlechtsbestimmung ist man wie schon
früher auch neuerdings wieder auf experimentellem Wege vorgegangen und hat durch Aus-
führung der Befruchtung in verschiedenem Zustand der Eier, durch Beeinflussung der Keim-
zellen auf dem Wege schlechterer oder besserer Ernährung, sowie durch Erniedrigung oder
Erhöhung der Temperatur das Geschlecht der aus diesen Eiern hervorgehenden Tiere zu
modifizieren gesucht. Die auf den verschiedenen Wegen erzielten zweifellosen Erfolge
sind freilich mannigfachen Deutungen unterworfen gewesen und ein abschließendes
Urteil läßt sich zur Zeit, wo wir noch mitten in diesen Forschungen stehen, zunächst nicht
Prüfung auf experimentellem Wege.
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