X. Buch. Zoologie. 203
Experimentelle Forschung. Die letzteren Auseinandersetzungen führten uns
schon wiederholt auf das Gebiet der experimen-
tellen Forschung, welche in verschiedenen Zweigen unserer Wissenschaft inner-
halb der letzten Jahrzehnte so außerordentlich wichtige und zum Teil gerabezu Aluf-
sehen erregende Erfolge gezeitigt hat. Wenn wir auch hier einen Versuch machen, sie
in kurzem zu charakterisieren, so gehen wir wie vorher am besten wieder von der Zelle
und ihrer experimentellen Behandlung aus.
Künstliche Parthenogenefis. Wohl die überraschendsten und unerwartetsten Be-
funde sind diejenigen, welche bei Ausführung der so-
genannten künstlichen Parthenogenese gewonnen wurden. Oie im Gegensatz zu der natür-
lichen Zungfernzeugung auf experimentellem Wege herbeigeführte „künstliche Parthe-
nogenesis“ besteht darin, daß die Eier von Stachelhäutern (Seeigeln, Seesternen), Wür-
mern, Mollusken und Insekten durch Anwendung geeigneter Salzlösungen oder auf
mechanischem Wege (durch Schütteln oder Reiben) veranlaßt werden könmen, sich ohne
Hinzutreten von Samenfäden zu entwickeln. Nach diesen, vor allem den glänzenden
Versuchen von Z. Loeb zu dankenden Beobachtungen gelingt es, die betreffenden Tiere
bis zur Erlangung der ausgebildeten Larvenform aufzuziehen, so daß an ihrer Entwick-
lung bis zum vollständigen, geschlechtsreifen Tier nicht zu zweifeln ist. Von vornherein
würde man es kaum für möglich gehalten haben, daß Tiere, deren Eier normalerweise
die Befruchtung nötig haben, ohne diese, d. h. mit Ausschaltung des männlichen Elements
zur Entwicklung gelangen könnten.
Merogonie. Haben wir bier eine der überraschendsten Tatsachen von dem Gebiet der
Experimentellen Entwicklungsgeschichte vor uns, deren Besonderheit
auch dem Nichtfachmann ohne weiteres einleuchten dürfte, so war für diesen eine andere
Entdeckung aus demselben Forschungsgebiet kaum weniger überraschend, nämlich die jetzt
als Merogonie bezeichnete Fähigkeit kernloser Eistücke, sich nach Eintritt eines Sperma-
tozoons entwickeln zu können. In dem kernlosen Eistück steht nur die Kernsubstanz der
männlichen Zelle zur Verfügung; der für die Befruchtung wesentliche Vorgang der Kern-
verschmelzung fällt also weg und doch entwickelt sich aus dem Eistück mit dem väterlichen
Kern ein vollständiger, nur kleinerer Organismus. Da man die vererblichen Eigenschaften
in die Kerne der Keimzellen verlegte und mit diesen übertragen werden ließ, fand man
in den auf so eigenartige Weise erzeugten Larven nur die Merkmale des Vaters wieder
und Boveri, dem wir die Kenntnis dieser für die Vererbungsfrage sehr wichtigen Er-
scheinungen verdanken, sprach daher von „Organismen ohne mütterliche Eigenschaften“.
Entwicklungsmechanik. Mit der Besprechung dieser Vorgänge gelangen
Experimentelle Morphologie. wir immer mehr in das Bereich der Entwick-
lungsmechanik oder Entwicklungsphosio-
logie, dieses so ungemein bedeutungsvoll gewordenen Zweiges der wissenschaftlichen Zoo-
logie. Auch bei ihr steht das Exrperiment stark im Vordergrund und mit seiner Hilfe sucht sie
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