Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
X. Buch. Die Entwicklung der Chirurgie. 223 
  
der zudem, soll er die Höhen seiner Kunst erreichen, noch andere, nicht erlernbare Eigen- 
schaften auf die Welt mitbringen muß, vor allem Mut und Fähigkeit zu raschem Entschluß. 
Groß geworden aber ist die Chirurgie nicht durch die Technik, sondern einzig und allein 
durch die wissenschaftliche Vertiefung; diese hat bewirkt, daß gerade in den jüngst ver- 
gangenen Dezennien der deutsche Charakter der TChirurgie mehr und mehr hervorgetreten ist. 
Ausbau der aseptischen Das stattliche Gebäude der modernen Thirurgie erhebt 
Wundbehandlung. sich auf den beiden Grundpfeilern der aseptischen Wund- 
behandlung und der Bekämpfung des Schmerzes. Ge- 
rade der Ausbau der aseptischen Wundbehandlung ist ein Beispiel, wie wenig ein- 
fache Empirie, wieviel die freie Tat des erfinderischen und kritischen Menschengeistes 
zu leisten vermag: Was jahrhundertelange Erfahrung nicht zu zeitigen vermochte, 
schuf in wenigen Jahren der Genius einiger großer Männer, unter denen Pasteur, 
Lister und Koch amerster Stelle zunennen sind. Es ist bezeichnend für die Größe Listers, 
daß ihm, dem eigentlichen Begründer der Antisepsis, die Rolle der Bakterien bei der 
Wundinfektion noch nicht offenbar war, er kämpfte vorahnenden Geistes gegen einen 
unbekannten Feind. Zwar hatte er aus seinen Studien die Uberzeugung gewonnen, 
daß lebende Keime, welche in der Luft und auf allen Gegenständen verbreitet sind, in 
der Wunde eine der Gärung und Fäulnis ähnliche Zersetzung herbeizuführen vermögen, 
der streng wissenschaftliche Nachweis der Bakterien als Ursache von Wundinfektionen 
aber gelang erst dem deutschen Forscher Nobert Koch. 
Entdeckungen Kochs. Wie eine Offenbarung wirkte die Entdeckung Kochs, der 
mit genial erdachten, einfachsten Methoden auf künstlichen 
Nährböden die Bakterien züchtete und ihre Gewinnung in Reinkultur ermöglichte. Mit 
überraschender Schnelligkeit wuchs der Kreis der nun mit einem Schlage in ihrer 
Ursache erkannten und einer rationellen Bekämpfung zugänglich gemachten Infektions- 
krankheiten. Zu ihnen gehörte auch die Wundentzündung und Wundeiterung, 
welche man früher als eine natürliche Reaktion des Körpers auf den äußeren Insult 
wie ein Fatum bingenommen hatte, obwohl ihr ständiges Auftreten nach operativen 
Eingriffen jede wahre wundärztliche Kunft im Keime erstickt hatte. Mit Robert 
Kochs unübertroffenen Methoden gelang es F. J. Rosenbach, die Erreger dieser 
Wundentzündung und Wundeiterung ausfindig zu machen. Sie sind Glieder einer 
großen Gruppe von Bakterien, die wir als Kugelbakterien oder Kokken bezeichnen, 
und werden Staphylokokken und Streptokokken genannt. Die Staphplokokken oder 
Traubenkokken, so benannt wegen ihrer Anordnung in traubenförmigen Haufen, sind 
die verbreitetsten Eitererreger; sie bilden auf künstlichen Nährböden Kolonien von 
gelber und weißer Farbe und verursachen, je nach ihrer Virulenz, in dem einen 
Falle nur eine harmlose Rötung und Schwellung der Wundumgebung, in dem anderen 
die schwerste fortschreitende Zellgewebseiterung und tödliche Blutvergiftung. Nicht ganz 
so häufige, aber fast noch gefährlichere Schädlinge sind die Streptokokken, die in Ketten 
angeordneten Kugelbakterien; die von ihnen hervorgerufenen Wundinfektionen pflegen 
sich durch besondere Bögartigkeit auszuzeichnen: Streptokokken sind die Erreger der 
  
  
  
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