Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
232 Die Entwicklung der Chirurgie. X. Buch. 
  
zu injizieren. Dadurch, daß die Gewebe „infiltriert“, also mit großen Flüssigkeitsmassen 
durchtränkt wurden, gelang auch mit sehr dünnen Lösungen des damals noch im Vorder- 
grunde stehenden Kokains die Erzeugung einer wirksamen Anästhesie. Das Verfahren 
hat zwar durch die Einführung der fast ungiftigen Ersatzpräparate des Kokains etwas an 
prinzipieller Bedeutung verloren, doch ist es das bleibende Verdienst Schleichs, durch 
seine Methode den Siegeslauf der Lokalanästhesie eingeleitet zu haben. 
Ein anderes Prinzip liegt der von Oberst erdachten regio- 
nären oder Leitungsanästhesie zugrunde, welche ur- 
sprünglich nur für Operationen an Fingern und Zehen geeignet war, in ihrer heutigen, 
namentlich Heinrich Braun zu dankenden Vollendung jedoch die Ausführung gerade der 
größten Operationen, besonders an der oberen Körperhälfte, ohne Allgemeinnarkose er- 
möglicht. Bei dem Verfahren wird das Anästhetikum durch Injektion an die zum 
Operationsfelde ziehenden Nerven verbracht und so das ganze, von diesen versorgte 
Gebiet gefühllos gemacht. Es ist ersichtlich, daß auf solche Weise in ganz besonderem 
Maße das erstrebte Ziel erreicht wird, mit möglichst geringen Mengen. des chemischen 
Präparates möglichst große Bezirke zu anästhesieren. Wo infolge der anatomischen An- 
ordnung isolierte Nervenstämme nicht erreichbar sind, bedienen wir uns des Prinzips 
der „Umspritzung“, indem wir rings um das Operationsfeld einen kontinuierlichen 
Infiltrationswall anlegen und so mit Sicherheit alle zuführenden Nervenstämme 
treffen. Das gleiche Ziel erreichen wir, wenn wir zum Zwecke einer Amputation den 
ganzen Querschnitt der Extremität mit der anästhesierenden Flüssigkeit durchtränken. 
Um tiefgreifende Operationen an den Extremitäten, Besek- 
tionen und Amputationen, schmerzlos ausführen zu können, hat 
man sich auch der Znjektion in die Blutgefäße bedient. Die Arterien sind für diesen Zweck 
weniger geeignet als die Venen. Bei der von Bier 1908 angegebenen Venenanästhesie 
wird die Extremität zunächst durch Wickelung mit einer elastischen Binde blutleer gemacht 
und die zu operierende Partie dann zwischen zwei Gummibinden abgeschnürt. In eine 
unter Lokalanästhesie freigelegte subkutane Vene dieses ausgeschalteten Bezirks werden 
40—100 ccm einer ½ prozentigen Novokainlösung eingespritzt, welche auf dem Blut- 
wege mit allen Nerven des betreffenden Extremitätenteils in Berührung gelangen 
und so eine völlige Querschnittsanästhesie herbeiführen. 
Nückenmarksanästhesie. Den kühnen Schritt, an Stelle der peripheren Aetven 
die hinteren Wurzeln des Rückenmarks selbst mit dem 
schmerzstillenden Mittel in Kontakt zu bringen, hat im Zahre 1898 ebenfalls August Bier 
getan. Nachdem er dieses sein Verfahren der Rückenmarksanästhesie an sich selbst 
erprobt hatte, ging er zu allgemeinerer Anwendung über. Mittels der Quinckeschen 
Lumbalpunktion wird in den das Rückemmark umgebenden Subduralraum eine kräftige 
Hohlnadel eingestoßen und ein geringes Quantum der hier normalerweise vorhan- 
denen Flüssigkeit entleert. Dann wird in einer aufgesetzten Spritze das Anästhetikum 
mit der angesaugten Zerebrospinalflüssigkeit gemischt und diese Mischung langsam ein- 
gespritzt. Nach 5—10 Minuten beginnt die Anästhesie am Damm und schreitet segment- 
weise nach unten und oben fort, bis schließlich die ganze untere Körperhälfte bis etwa 
Leitungsanästhesie. 
  
Venenanästhesie. 
  
  
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