Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
X. Buch. Allgemeine Naturwissenschaft; Botanik; Abstammungslehre. 103 
  
andres als materielle Träger gestaltender Kräfte, für die eine Bestimmung nach 
energetischen Werten undurchführbar erscheint. 
So gelangt unfre kritisch abwägende Zeit immer mehr dahin, in den Lebensvor- 
gängen Erscheinungen zu sehen, die an ein materielles Substrat geknüpft sind, und die 
eines stetigen Energiewechsels nicht entbehren können, in deren inneres Getriebe aber 
fortwährend Vorgänge hineinspielen, bei denen die Anlegung des energetischen Maß- 
stabes nicht gelingt. " 
Man sucht nach einer Formel für solche Beziehungen, solchen Zusammenhang. Hch 
versuchte sie dahin zu geben, daß das Leben besteht aus einer Schar von materiellen 
bzw. energetischen Elementarprozessen, die im Körper des Lebewesens an 
Elementarmechanismen gebunden sind; diese werden zusammengehalten durch 
ein einigendes Band, dessen Wesen sich unsrer Erkenntnis entzieht; gleichsam durch die 
Kette einer unsichtbaren Macht, die das Unterscheidende am Leben gegenüber allem 
Geschehen in der leblosen Welt ausmacht, und die man 
Lebensprinzip nennen kann. Die einzelnen Elementar- 
mechanismen inmerhalb des Organismus sind der phypsiologischen, d. h. einer phpsiko- 
chemischen Erforschung zugänglich; während für solche Analyse das Lebensprinzip selbst 
nicht in Betracht kommt. 
Die Elementarmechanismen bilden somit nur einen Bruchteil des lebendigen Wesens; 
den andern Teil bildet das sie zusammenfassende Band, das Lebensprinzip. Dasselbe 
verbindet die zahllosen Elementarmechanismen innerhalb des Organismus zu einer 
Einbeit, einem Individuum; es findet aber weiter seine Fortsetzung in den Generationen. 
In der Befruchtung, der Geburt, der Entwicklung der Individuen zeigt das Lebensprinzip 
seine Kontinuität: es erhält sich durch sie. Wenn in der Entwicklung, einer Grundeigen- 
schaft des Lebens, die Gestalt eines Tieres fortschreitet von der Eizelle bis zum fertigen, 
d. h. wieder zeugungsfähigen Zustande, so wird jede Stufe, indem sie Vorbedingung ist 
für die nächste Stufe, durch das Lebensprinzip mit dieser und mit allen übrigen Stufen 
verknüpft. 
Für jeden der im Tier- oder Pflanzenkörper vorhandenen Elementarmechanismen 
können wir eine gesonderte Existenz denken; für das Lebensprinzip nicht, weil es tatsächlich 
in den gesetzmäßigen Beziehungen der Elementarmechaniemen untereinander besteht. 
Diese letzteren würden prinzipiell für uns künstlich herstellbar sein, das sie 
verbindende Lebensprinzip aber nicht. Da dies die Beziehungen der Teile im 
Organismus zueinander ausdrückt, können wir es auch einem Gesetze vergleichen, das 
ebenfalls weder sichtbar noch tastbar ist; denn ein Gesetz ist der Ausdruck von Beziehungen. 
Somit ist das Lebensprinzip der gesetzmäßige Zusammenhang der Elementarmechanis- 
men bzw. Teile des Organismus, und seine gesetzmäßige Wirksamkeit schließt 
es aus, daß in einem Lebewesen sich die einzelnen Elementarmechanismen 
zufällig aneinanderreihen. ODas Leben besitzt seine eigene Gesetzlichkeit, wie das 
Licht, die Wärme, die chemischen Vorgänge die ihre besitzen. Damit ist jeder mustischen 
Deutung des Lebensprinzips die Spitze abgebrochen. Vergleichen könnte man das 
Lebensprinzip höchstens dem menschlichen Gedanken, der in einer komplizierten Maschine 
Lebensprinzip. 
  
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