Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
240 Die Entwicklung der Thirurgie. X. Buch. 
  
griffe am Gehirn weit besser ertragen werden, als man je für möglich gehalten hatte. 
Die weitere Erforschung gewährte dann in das ganze komplizierte System der Zentren 
und Leitungsbahnen des Gehirns den Einblick, der uns heute in den Stand setzt, mit 
großer Sicherheit die Lage eines Krankheitsherdes zu ermitteln. Hatte sich die Chirurgie 
zunächst darauf beschränkt, Eiterherde im Gehirn an der Stelle einer Verletzung operatio 
zu eröffnen, so wurde nun, nach dem Vorgange Ernst v. Bergmann s, ein Gebiet nach 
dem anderen erobert, und die Diagnostik in hohem Maße dadurch gefördert, daß mittels 
der sogenannten „Gehirnpunktion" durch feinste Bohrlöcher im Schädel die Punktions- 
nadel in das Gehirn eingesenkt und krankhaftes Material auch aus versteckten Regionen 
zutage gefördert wurde. 
Mit Hilfe der verfeinerten Diagnostik und Technik gelang es nunmehr, auch eine der 
schrecklichsten Krankheiten operativ anzugreifen, die ohne Operation mit voller Gewißheit 
zum Tode führt, die Gehirngeschwulst. Ein Gewächs im Gehirn ist deshalb so unabwend- 
bar tödlich, weil die in der geschlossenen Schädelkapsel ständig wachsende Reubildung 
den Raum immer mehr beengt und das Gehirn unter schwersten Qualen für den erblin- 
denden Patienten gleichsam erdrückt. Zede gelungene radikale Entfern#ng einer Hirn- 
geschwulst ist also eine absolute Lebensrettung. 
Bis vor wenigen Jahren schien es, als ob wir Geschwülste nur an der Oberfläche 
des Gehirns, besonders in den Regionen, die die Bewegungen des Gesichtes, der Arme 
und der Beine regeln, zu erreichen vermöchten; seitdem aber sind wir weit kühner ge- 
worden, und es gibt heute nur wenige Gegenden des Gehirns, aus denen nicht schon Ge- 
schwülste mit Erfolg entfernt worden wären. 
Liegt eine Neubildung an der Oberfläche des Gehirns und ist ihr Sitz aus den Symp- 
tomen, vielleicht unter Zuhilfenahme der Gehirnpunktion, mit möglichster Sicherheit 
festgestellt worden, so eröffnen wir die knöcherne Schädelkapsel mittels elektrisch betrie- 
bener Instrumente innerhalb weniger Minuten unter Bildung eines Knochendeckels, der 
nach Beendigung der Operation wieder eingefügt wird. Die harte Hirnhaut wird durch- 
trennt und die Geschwulst unter möglichster Schonung der benachbarten Gehirnabschnitte 
ausgelöst. 
Bieten diese Operationen an der Oberfläche des Gehirns keine besonderen Schwierig- 
keiten, so wird die Situation eine durchaus andere, wenn es sich um Geschwülste handelt, 
die, bedeckt vom Gehirn, an dessen Unterfläche gelegen sind. So werden heute Neubildungen 
operiert, die wegen ihrer Lage zwischen dem Kleinhirn und der sogenannten Brücke 
„Kleinhirnbrückenwinkelgeschwülste“ genannt werden. Diese Geschwülste sind deswegen 
so gefährlich, weil sie in ummittelbarer Nähe des eigentlichen Knotenpunktes des Lebens, 
des verlängerten Markes, gelegen sind und bei zunehmender Größe durch Erdrücken des 
Atmungszentrums töten. Wegen dieser äußerst heiklen Lage muß die Entfernung mit 
größter Vorsicht geschehen. BVom Nacken her wird die hintere Schädelgrube freigelegt 
und die harte Hirnhaut unter sorgfältiger Vermeidung der hier gelegenen großen Blut- 
leiter eröffnet. Aun liegt das Kleinhirn zutage, welches die Geschwulst bedeckt; es wird 
mit großer Vorsicht emporgehoben und nach einwärts verschoben, dann unter künstlicher 
Beleuchtung die in großer Tiefe gelegene Geschwulst zugänglich gemacht und unter Lei- 
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