Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
X. Buch. Die Entwicklung der Chirurgie. 241 
  
tung des Auges ohne jeden Druck auf die lebenswichtigen Nachbarteile des Gehirns und 
ohne Verletzung der großen, in der Tiefe eben sichtbaren Nervenstämme, entfernt. Ist 
dieser Akt der Operation beendet, so wird das Kleinhirn wieder an Ort und Stelle ge- 
lagert, die harte Hirnhaut vernäht, der Knochendeckel eingefügt und die Wunde durch 
Naht geschlossen. 
Aber an noch unzugänglichere Regionen wagen wir uns heran, um Gehirngeschwülste 
zu entfernen. So gibt es Neubildungen des ziemlich genau in der Mitte der Schädel- 
und Gehirnbasis gelegenen Hirnanhanges, der sogenannten Hypophyse, die ein höchst 
eigentümliches, durch Vergrößerung der Extremitäten und des Kopfes ausgezeichnetes 
Krankheitsbild hervorrufen und durch Druck auf den Sehnerven zur Erblindung führen. 
Oiese noch vor wenigen Jahren für völlig unzugänglich gehaltenen Geschwülste erreichen 
wir nun nach dem Vorgange von Schloffer dadurch, daß wir die äußere Nase an drei 
Seiten aus ihren Verbindungen lösen, sie nach abwärts umlegen, uns dann den Weg 
an der Schädelbasis bis an die in großer Tiefe gelegene Keilbeinhöhle bahnen und durch 
deren obere und hintere Wand gegen die Geschwulst vordringen, ohne den benachbarten 
Sehnerven zu verletzen. Nach der durch starke Blutung erschwerten Entfernung des Ge- 
wächses wird die Nase wieder in ihre natürliche Lage gebracht und heilt hier ohne beson- 
dere Entstellung an. Auch ohne Aufklappung der Nase und in Lokalanästhesie läßt sich 
in geeigneten Fällen die Operation ausführen. Es ist erstaunlich, wie schnell sich nach dem 
Eingriffe die hochgradigsten Veränderungen der äußeren Körperform zurückbilden 
können. 
Begreiflicherweise sind alle Operationen wegen Hirntumors sehr gefährlich, und ihre 
Sterblichkeit ist eine hohe, vor allem deshalb, weil die Mehrzahl dieser Geschwülste äußerst 
böszartig ist und sich diffus im Gehirn verbreitet. Die Resultate sind unter dem bereits 
betonten Gesichtspunkte zu betrachten, daß jeder sich selbst überlassene Hirntumor unab- 
wendbar zu einem qualvollen Tode führt. Von 92 Patienten mit Hirngeschwulst, welche 
ich im Laufe der letzten 5 /8 Jahre beobachtet habe, konnten 72 einer Operation unter- 
zogen werden. Von diesen leben heute noch, bis zu 4 und 5 Jahre nach der Operation, 
22, und zwar haben 10 ihre volle Arbeitskraft, 20 ihre Sehfähigkeit wiedererlangt. Von 
16 Patienten mit Geschwülsten der Hppophyse, welche sich von den eigentlichen Hirn- 
tumoren durch langsames Wachstum und gutartigen Charakter auszeichnen, hat v. Eisels- 
berg nur 4 verloren. 
Außer der Gehirngeschwulst werden erfolgreich operativ angegriffen die Blutungen 
innerhalb der Schädelhöhle, die Abszesse des Gehirns, einzelne Formen der eitrigen Ge- 
hirnhautentzündung und der Gerinnselbildung in den großen Blutleitern der harten 
Hirnhaut, namentlich aber die vom mittleren und inneren Ohr ausgehenden Gehirn- 
komplikationen. Bei allen den genannten Affektionen des Gehirns und der Gehirn- 
häute ist es von größter Bedeutung, daß die Operation so früh als irgend möglich statt- 
findet; nur unter dieser Voraussetzung ist bei den überaus gefährlichen Erkrankungen 
eine Rettung möglich. Deshalb sind die großen Erfolge, welche die Diagnostik hier 
aufzuweisen hat, von gleicher praktischer Bedeutung wie die Fortschritte der opera- 
tiven Technik. 
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