Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
244 Die Entwicklung der Chirurgie. X. Buch. 
  
am Zusammensinken bei Eröffnung des Brustkorbes hindert. Das Oruckdifferenzverfah- 
ren ist in neuester Zeit außerordentlich vereinfacht worden. An Stelle komplizierter 
pneumatischer Kammern und großer Apparate werden heute kleine, auf dem Prinzip 
des Uberdruckes beruhende Vorrichtungen benutzt, die wenig kostspielig und daher auch 
kleineren Betrieben zugänglich sind. Besonders aussichtsreich ist ein höchst einfaches, schon 
bei Besprechung der Narkose kurz erwähntes Verfahren, die Insufflationsmethode 
von Meltzer und Auer (1909). Ourch ein elastisches Gummirohr, welches nur einen 
Teil der Luftröhre ausfüllt und durch den Kehlkopf bis zu den Bronchien geführt 
wird, gelangt ein kontinuierlicher Sauerstoffstrom aus einer Bombe unter geringem 
Druck in die Lungen und hindert diese am Zusammensinken bei Eröffnung der Brusthöhle. 
Das Druckdifferenzverfahren erleichtert jedes operative Vorgehen an den inneren 
Brustorganen erheblich und hat manche Eingriffe, so die Entfernung bösartiger Lungen- 
geschwülste und die Operation des intrathorakal gelegenen Speiseröhrenkarzinoms, 
überhaupt erst in das Bereich der Möglichkeit gebracht. Das letzte, noch ungelöste und bis 
in die neueste Zeit für unlösbar gehaltene Problem der operativen Chirurgie, die er folg- 
reiche Entfernung des im Innern des Brustkorbes befindlichen Speiseröhren- 
krebses ist nun auch gelöst worden: vor wenigen Monaten operierte Z aaijer einen 
Krebs am unteren Ende der Speiseröhre und Torek einen solchen in Höhe des Aorten- 
bogens mit Ausgang in Heilung. 
Auf operativem Wege vermögen wir heute auch zwei der häufigsten Lungen- 
krankheiten in bestimmten schweren Formen günstig zu beeinflussen, die chronische 
Lungenblähung, das Emphysem und die Lungentuberkulose. Beim Emphysem kann die 
Lunge nicht genügend atmen, weil der faßförmige Brustkorb für die Atembewegungen zu 
starr ist. Wir machen ihn nach dem Vorschlage von Freund beweglich, indem wir auf einer 
oder beiden Seiten des Brustbeins durch Entfernung kleiner Stücke aus jeder Nippe eine 
A#Lt künstlicher Gelenke herstellen. Bei der Lungentuberkulose behandeln wir operatio 
naturgemäß nicht die beginnende Erkrankung, welche große Reigung zur spontanen Aus- 
beilung besitzt, sondern die fortgeschrittenen, mit Bildung von Höhlen, sogenannten 
Kavernen, einhergehenden Formen. Oie Eröffnung der Höhlen von außen her, die 
bei Eiterungen und brandigen Zerstörungen der Lunge so gute Dienste leistet, 
ist bei der Tuberkulose nicht zweckmäßig, viel besser sind die Erfolge der Verfahren, welche 
sich auf die Tatsache gründen, daß eine Höhle in der Lunge deshalb nicht von selbst aus- 
beilt, weil die Ausspannung der Lunge in dem unnachgiebigen Brustkorbe ein Schrumpfen 
und Verwachsen der Höhle verhindert. Unser Bestreben muß deshalb sein, die Lunge 
gleichsam wie einen Schwamm zusammenzudrücken. Wir gelangen an dieses, nur bei 
einseitiger Erkrankung erreichbare Ziel entweder dadurch, daß wir sterilen Stickstoff 
durch eine feine Punktionsnadel in den Brustfellraum einströmen lassen und so in einem 
durch Röntgenstrahlen leicht kontrollierbaren Grade die Lunge zusammenpressen (künst- 
licher Pneumothorazx nach Forlanini-Brauer), oder dadurch, daß wir über der 
erkrankten Lunge die Rippen entfernen und so die starre Brustwand in eine nachgiebige, 
für die Ausheilung der Höhlen günstige verwandeln (Brauer, Friedrich, Wilmzg). 
Das gleiche Prinzip leistet uns ausgezeichnete Oienste bei einer besonderen Art 
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