Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
X. Buch. Die Entwicklung der Chirurgie. 247 
  
sachen der gehäuften Beobachtung hat das Leiden mit der Blinddarmentzündung gemein, 
die ihrerseits sekundär ein Geschwür des Zwölffingerdarmes hervorrufen kann. 
Auch die Resultate der wegen Magenkrebs ausgeführten Operationen werden von 
Lahr zu Jahr bessere, in erster Linie deswegen, weil die Patienten frühzeitiger zur Ope- 
ration kommen. Es ist nicht nur die unmittelbare Sterblichkeit der von Billroth geschaffe- 
nen, durch v. Mikulicz vervollkommneten großen Operation ständig geringer geworden, 
sondern es nimmt auch die Zahl der Dauerheilungen entschieden zu. Die Resultate wür- 
den noch weit bessere sein, wenn nicht in weiten Kreisen das Vorurteil herrschte, der 
Magenkrebs sei eine unheilbare Krankheit, und deshalb die überwiegende Mehrzahl der 
Patienten viel zu spät den Chirurgen aufsuchte. Das Hauptziel der Magenchirurgie, 
welches in Schlesien wegen der Häufigkeit des Magenkrebses vielleicht mehr als in anderen 
Teilen unseres Vaterlandes bereits erreicht ist, muß darin gesucht werden, daß jeder Pa- 
tient, bei dem der geringste Verdacht einer Krebserkrankung des Magens besteht, dem 
TChirurgen zum Zwecke des heute gänzlich ungefährlichen diagnostischen Leibschnittes 
so bald als irgend möglich zugeführt wird. 
Nücenmark. Ein Gebiet, auf dem die Erfolge ebenfalls ständig wachsen, obwohl es 
erst in jüngster Zeit für die operative Heilkunde gewonnen wurde, ist 
die Chirurgie des Rückenmarks. Es seien wiederum nur einige Beispiele heraus- 
gegriffen. Ein überaus qualvolles Leiden ist die Rückenmarksgeschwulst. Unabwend- 
dar erlag ihr früher der Betroffene langsam und unter größten Schmerzen, ein 
Schicksal, das um so trauriger war, als die Neubildung in der Mehrzahl der 
Fälle gutartigen Charakter trägt und nur dadurch zum Tode führt, datz sie in 
dem engen Rückenmarkskanal mit zunehmendem Wachstum das Rückemmark förmlich 
abquetscht. Durch das fruchtbare Zusammenarbeiten mit der inneren Medizin 
und Nervenheilkunde, welches überhaupt zu den wichtigsten Errungen- 
schaften des letzten Vierteljahrhunderts zählt, ist es hier wie auf vielen an- 
deren Gebieten der Chirurgie gelungen, völligen Wandel zu schaffen. Wir legen heute 
ohne besondere Gefahr und Schwierigkeit das Rückenmark an der vorher aus den 
Symptomen genau bestimmten Stelle frei und entfernen vorsichtig die Geschwurlst, 
ohne die wichtigen Leitungsbahnen des Rückenmarks zu schädigen. Das Heilungsresultat 
ist wegen der Gutartigkeit der Geschwülste meist ein dauerndes. Die erste erfolgreiche 
Operation bei Rückenmarkstumor ist im Jahre 1889 von Horsley und Gowers aus- 
geführt worden, heute sind bereits Hunderte von gelungenen Operationen dieser Art 
in der Literatur verzeichnet. 
Einen höchst originellen Weg, der uns ermöglicht, einige bisher jeder Behandlung 
unzugängliche Krankheiten zu heilen, hat uns im Jahre 1908 der Breslauer Neurologe 
Otfried Foerster gewiesen. Es handelt sich vor allem um die angeborene Elieder- 
starre, die trostlose Littlesche Krankheit, bei deren schwersten Formen die Menschen als 
völlig starre Klötze in gänzlicher Hilflosigkeit dauernd ans Bett gefesselt sind. Foerster 
erkannte, daß die Ursache dieser Starre darin zu suchen ist, daß die von der Körperober-- 
fläche ausgehenden Gefühlsreize, die normalerweise das Gehirn regelt, hier durch den 
  
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