Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
256 Die Entwicklung der Chirurgie. X. Buch. 
  
Die ausgiebigste Anregung zu experimentellen Studien gab die Einführung der llein- 
kalibrigen Gewehre, der Mantelgeschosse mit ihren verschiedenen Modifikationen und 
der modernen Artillerieprojektile. Neben den Untersuchungen von Reger, Kocher, 
Paul v. Bruns, Riedinger, Feßler und anderen sind bier vor allem die umfassen- 
den, unter der Leitung des jetzigen Generalstabsarztes v. Schjerning ausgeführten 
Schießversuche der Medizinalabteilung des preußischen Kriegsministeriums 
zu nennen, welche, ein Muster deutschen Fleißes und gewissenhafter Forschung, der ge- 
samten Kriegschirurgie der Neuzeit die wissenschaftliche Grundlage geschaffen haben. 
Das Jahr 1896 hat dann durch Konradb Röntgens große Entdeckung auch dem Stu- 
dium der Kriegsverletzungen eine unerwartete Hilfe gebracht, und namentlich der Lehre 
von der Schußfraktur ist durch das Röntgenverfahren eine auf anderem Wege nicht er- 
reichbare Förderung zuteil geworden. Die ersten praktischen Erfahrungen vom Kriegs- 
schauplatz hat Küttner im Jahre 1897 während des griechisch-türkischen Krieges auf 
türkischer Seite zu sammeln Gelegenheit gehabt, seitdem sind in allen Feldzügen der neu- 
esten Zeit die Röntgenstrahlen zur Verwendung gelangt. Sie haben sich als ein hervor- 
ragendes kriegschirurgisches Hilfsmittel bewährt, welches außer für die Therapie der 
Knochenschußbrüche auch für die Beurteilung und Behandlung vieler Verletzungen des 
zentralen und peripheren Nervensystems, wie für die Feststellung des Sitzes steckenge- 
bliebener Geschosse unentbehrlich geworden ist und dank der transportablen Einrich- 
tungen für Kriegszwecke heute selbst in der vorderen Linie Verwendung finden kann. 
Wie die Nöntgenstrahlen, so sind auch andere technische Errungenschaften der neuesten 
Zeit mit Erfolg in den Dienst der Kriegschirurgie gestellt worden. Hervorgehoben seien 
die kinematographischen Studien von Tilmann über die Schädelschüsse und die 
wiederum im Auftrage der unermüdlichen Medizinalabteilung des Preußischen 
Kriegsministeriums ausgeführten Untersuchungen von Kranzfelder und Schwin- 
ning, welche die Mehrfach-Funkenphotographie für die Darstellung der Geschoß- 
wirkung im menschlichen Körper ausnützten. Gerade diese letztgenannten Experimente 
zeigen, bis zu welcher Höhe die wissenschaftliche Forschung heute auf einem Gebiete 
gediehen ist, welches jahrhundertelang dem Vorurteile, dem Aberglauben und der 
rohen Emnpirie preisgegeben war. 
Anwendung des antiseptischen Haben alle diese Untersuchungen unsere theore- 
Prinzips. tischen Kenntnisse der Kriegsverwundungen nach 
— jeder Richtung hin entwickelt und vertieft, so sind 
die großen äußeren Erfolge der Kriegschirurgie vorwiegend dem zweiten erwähnten Faktor 
zu danken, der rationellen Ubertragung des antiseptischen Prinzips auf die- 
Verhältnisse des Krieges. Die Wundbehandlung hat sich den Besonderheiten des 
Feldes anpassen müssen. Während im Frieden durch die Antisepsis der operativen Therapie 
immer weitere Gebiete erschlossen wurden, ist die Kriegschirurgie im Gegenteile mit Hilfe 
der Antisepsis operativ zurückhaltender geworden, sie ist heute konservativ in doppeltem 
Sinne, denn sie vermag unter unsicheren Verhältnissen jede nicht unmittelbar lebens- 
rettende Operation zu vermeiden, und sie ist konservativ, weil sie erhält, was früher der 
Verstümmelung anheimfiel. Ein Name verdient hier vor allen anderen genannt zu werden, 
  
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