X. Buch. Die soziale Medizin und soziale Hygiene. 261
und gesetzgebenden Körperschaften Abhilfe zu schaffen; als aber ihre Petitionen keinen
Erfolg hatten, schlossen sie sich zur Selbsthilfe im Leipziger Verband zusammen.
Ihre Bestrebungen gingen dahin, daß die Kassenarztstellen nicht mehr nach Willkür
des Vorstandes vergeben werden sollten, daß alle Arzte, welche zur kassen-
ärztlichen Tätigkeit bereit waren, zu dieser zugelassen werden sollten
(beschränkte freie Arztwahl), und daß eine Vertragskommission der Arzte die
nötigen Kassenverträge abschließe. Gleichzeitig wurde eine angemessene Honorierung
der kassenärztlichen Tätigkeit verlangt, die zum Teil weit unterhalb der gesetzlichen Hono-
rierung für die Einzelleistung an Armenverbände stand. Diese Bestrebungen waren um
so mehr gerechtfertigt als durch die Fortschritte in den diagnostischen Methoden und der
Behandlung die Anforderungen an die Leistungen jedes gewissenhaften Arztes wesentlich
größere geworden waren als in früherer Zeit. Innerhalb kurzer Zeit waren von etwa
33000 deutschen #rzten 25 000 im Leipziger Verband vereint.
Gegen diese Bestrebungen erhoben die Kassen-
vorstände teilweise einen Sturm der Ent-
rüstung. Sie fürchteten, daß eine wesentliche Erhöhung der Kassenausgaben durch höhere
Ausgaben für Trzte und Arzneimittel stattfinden werde, daß die alten patriarcha-
lischen Beziehungen des Kassenvorstandes zum Kassenarzt aufhören würden, da die
vom Vorstand unabhängigen Arzte kein intensives Interesse an der Kasse haben könnten,
und so die Krankheitssimulation und die ungerechtfertigte Ausnutzung der Kassen
stark zunehmen werde. Alle diese Befürchtungen haben sich bei den vom Leipziger Ver-
band vorgeschlagenen Kontrolleinrichtungen teilweise als falsch, teilweise als stark über-
trieben herausgestellt, wie es die Arzte von Anfang an behauptet hatten, und wie es der
Rendant der großen Magdeburger Ortskrankenkasse Müller an einem großen Zahlen-
material bewiesen hat. Einzelne Kassenvorstände glaubten allerdings aus der Zusammen--
stellung ihrer Einnahmen und Ausgaben beweisen zu können, daß eine völlig unerschwing-
bare Erhöhung der Arzt- und Arzneikosten infolge der freien Arztwahl erfolge, andere
verschmähten die Einrichtung der ärztlich empfohlenen Kontrolleinrichtungen, um die
Unmöglichkeit des Sostems der freien Arztwahl demonstrieren zu können. Allerdings
kann die Erhöhung der Kassenausgaben nicht bestritten werden. Aber ein größerer Teil
bieser fällt nicht der Versorgung mit ärztlicher Hilfe im alten Sinne zur Last. Einzelne
Kassen haben eine Erhöhung des Krankengeldes und eine Ausdehnung der Krankenpflege
eintreten lassen, andere haben Rekonvaleszentenhäuser errichtet, deren Betrieb pro
Kopf und Tag etwa die doppelten Kosten eines Krankenhausaufenthaltes erfordert,
viele Kassen lassen, was nur auf das wärmste begrüßt werden kann, ihren Klienten zahn-
ärztliche Hilfe zuteil werden. Die Kosten für Zahnäcrzte machten bei der Krankenkasse für
kaufmänmisches und Bureaupersonal in Düsseldorf im Jahre 1912 18% des ärztlichen
Honorars aus, unter welches dieselben, wie der Kassenvorstand auch betont, gerechnet
werden. Die vielfach eingeführte ärztliche Hilfe für Familienangehörige der Kassen-
mitglieder hat die Ausgaben für ärztliche Leistungen um mehr als 60 % ansteigen lassen
(Bonn). Auch die Kosten für Heildiener, Masseure, Hebammen werden unter den Aus-
Kampf mit den Kassenvorständen.
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