X. Buch. Die soziale Medizin und soziale Hygiene. 277
nungsverhältnisse, welche dem Fall des Festungsgürtels und der Ausbreitung der Be-
völkerung auf eine wesentlich größere Wohnungsfläche folgte. Ein besonders starker Rückgang
fand aber in den Jahren 1890—1899 statt, in welchen die Tuberkulosesterblichkeit von
3% auf weniger als 2% fiel. Im Jahre 1911 betrug sie nur 1,152 0. In Preußen starben
von je 10 000 Lebenden im Zahre 1876 32 Personen, im Jahre 1909 nur 15,59. Dieser
erfreuliche Rückgang der Tuberkulosesterblichkeit ist zweifellos den Fortschritten der Be-
handlung und den großen sozialhygienischen Maßnahmen zuzuschreiben, welche in den
neunziger Jahren des vorigen Fahrhunderts einsetzten. Die Erfahrungen von Brehmer
und Dettweiler hatten gelehrt, daß viele Fälle von Tuberkulose unter entsprechender
Behandlung heilbar sind; aber diese Behandlung war bis dahin nur einer Minderzahl
zugängig. Ausgehend von diesen Erfahrungen und der durch Koch und seine Mit-
arbeiter geschaffenen Lehre von der Ubertragung der Krankheit trat 1895 in Deutschland
unter E. von Leyden, B. Fränkel, Pannwitz u. a. ein Zentralkommitee zur
Bekämpfung der Tuberkulose zusammen, um alle geeigneten Maßnahmen im
Gebiete des Reichs zu fördern. In der Folge bildeten sich noch viele Vereine mit ähn-
lichen Bestrebungen, teils in Deutschland, teils im Ausland und im JZahre 1902 wurde
auch ein internationales Zentralbureau zur Bekämpfung der Tuberkulose mit dem
Sit in Berlin geschaffen.
Mittel zur Bekämpfung. A##le Mittel zur Bekämpfung der so viele Menschen in
blühendem Lebensalter hinraffenden Seuche wurden
im Laufe der Zeit in den Sitzungen besprochen. Es kamen und kommen in Betracht:
1. die Besserung der Ernährungs- und Wohnungsverhältnisse einer großen
Zahl von Menschen auch in ländlichen Bezirken, die in einzelnen Teilen Deutschlands
besonders stark von der Tuberkulose heimgesucht sind.
2. Die Vernichtung des Auswurfs und der Abscheidungen tuberkulöser Men-
schen, sowie die Desinfektion von Leib-, Bettwäsche, Handtüchern, Kleidern Er-
krankter und Gestorbener.
5. Die Vorkehrungen zum Schutz des Kindes gegen Tuberkulose durch Verab-
reichung einwandfreier Milch (v. Behring) und Maßnahmen gegen die Ansteckung
in der Familie.
4. Vorkehrungen gegen AUbertragung in der Schule durch schulärztliche Aufsicht.
5S. Verbreitung des Verständnisses für die Tuberkulose durch aufklärende Vorträge,
Volksschriften, Wandermuseen für Tuberkulose und Warnungen.
6. Bekämpfung der ausgebrochenen Krankheit durch Schaffung von einer großen
Zahl Volksheilstätten für heilbare Fälle.
Außerdem erscheint es dringend erwünscht, daß 7. alle Erkrankungen an offener
Tuberkulose anzeigepflichtig werden.
Welche Verbreitung die Tuberkulose teilweise hat, und wie verheerend sie in länd-
lichen Bezirken zu wirken vermag, haben die Beobachtungen im Kreise Hümmling gezeigt.
Mangelhafte Wohn- und Schlafräume in Verbindung mit ungenügender Ernährung
und einer anschließenden Gleichgültigkeit der Bevölkerung ließen eine Ausbreitung der
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