Full text: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Vierter Band. (4)

  
284 Die soziale Medizin und soziale Hygiene. X. Buch. 
stehen. Außerdem können trunksüchtige Nentenempfänger der Landesversicherungs- 
anstalten gegen Abtretung der Rente in einem Invalidenheim verpflegt werden. 
Ferner kann in Preußen nach einer Verfügung des Ministers des IZnneren vom 
24. Dezember 1841 die Ortepolizeibehörde den Schankwirten Perfönlichkeiten als 
Trunkenbolde bezeichnen, denen bei einer Polizeistrafe von 2 bis 5 Talern kein 
Branntwein verabreicht, oder auch nur der Aufenthalt in der Gaststube verstattet 
werden darf. 
Allerdings wird von dieser Berechtigung kaum Gebrauch gemacht. Sie dürfte aber 
mehr in Betracht kommen, wenn es sich darum handelt, dem Rentenbezieher an Stelle 
baren Geldes Naturalien zu verabreichen, da nach dem Invalidenversicherungsgesetz 
und dem Unfallversicherungsgesetz für Land- und Forstwirtschaft die Rentenbezüge den- 
jenigen Personen in Naturalleistungen geliefert werden können, welchen geistige Getränke 
in öffentlichen Schankstätten nicht verabreicht werden dürfen. 
Freiwillige Mitwirkung des Voltes. Ae diese gesetlichen und verwaltungs- 
rechtlich möglichen Eingriffe in das Leben 
des Trinkers bedürfen aber der freiwilligen Mitwirkung des Volkes. Schon seit langer 
Zeit sind an verschiedenen Orten Deutschlands Anstalten für Trinker errichtet worden, 
teils von dem Gedanken der möglichen Heilung der Trunksucht ausgehend, teils von dem 
Wunsch, Trinker, welche außerhalb der Anstalt rasch wieder dem Alkoholismus verfallen 
und in Konflikte geraten, vor beidem zu retten. Außer den Trinkerheilstätten sind in 
Deutschland in den letzten Fahren 178 Fürsorgestellen für Trinker erstanden. Ihre Be- 
deutung wird im Laufe der Zeit sicher wachsen. Bielfach sind auch Erfrischungshallen 
in Städten, in Fabriken eingerichtet, welche an Stelle alkoholischer Getränke Milch, Kakao, 
Kaffee zu einem geringen Preis verabreichen. Der Berliner Frauenverein gegen den 
Mlkoholismus hat neben vielen anderen Erfrischungshallen auch eine solche an Stelle 
einer früheren Kneipe und in dieser nach dem Vorbild Schwedens einen Mittagstisch 
eingerichtet. Auch im Grunewald wurden alkoholfreie Erfrischungshallen eingerichtet 
und die Entziehung der Schankgerechtsamkeit der Förster seitens des Forstfiskus erreicht. 
Eine erfolgreiche Bekämpfung des Alkoholismus ist aber nur zu erwarten, wenn 
alle Kreise des Volkes in dem gleichen Gedanken zusammenarbeiten. Da die höher 
kultivierten Klassen und Rassen den weniger kultivierten häufig als Vorbilder dienen, so 
ist es die erste Aufgabe, daß die Trinksitten der Wohlhabenden bekämpft werden, 
und daß letztere an der Beschränkung und dem Ersatz der Trinksitten mitarbeiten. 
Der Appell zur Mitarbeit mußte sich demgemäß an erster Stelle an die jetzigen 
und künftigen Führer des Volkes, die Lehrer, die Offiziere und Studierenden wenden. 
Man muß auf England hinweisen, in dem der Sport und die damit verknüpfte Ausbil- 
dung der körperlichen Leistungsfähigkeit in den höheren Klassen den #llkoholismus sehr 
eingeschränkt hat. Der Appell ist auch nicht vergebens gewesen. 
Die Bestrebungen im Kampf gegen den Alkoholismus gehen zwar unter zwei ver- 
schiedenen Devisen, aber im Prinzip hat jede dieser Bewegungen ein gewisses Recht. 
Die völlige Enthaltung von Alkohol ist für viele Menschen nicht nur durchführbar, sie ist für 
  
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