X. Buch. Allgemeine Naturwissenschaft; Botanik; Abstammungslehre. 107
Abstammungslehre. Schon früher, z. B. am Anfange des vorigen Fahr-
hunderts durch Lamarck, ausgesprochen, hat diese Lehre
doch erst seit dem Erscheinen von Darwins „Ursprung der Arten“ im Fahre 1859
ihren eigentlichen Siegeszug durch die Welt angetreten. Fast wie ein Rausch be-
mächtigte sie sich der Köpfe und übt auch heute noch ihren faszinierenden Einfluß
auf das zeitgenössische Denken aus. Sie gilt den meisten Biologen und Geologen
so sehr als ein Schatz unerschütterlicher Wahrheit, daß ich selbst sie einst als ein Axiom)
biologischer Forschung bezeichnete. Dies hat man bestritten; allein jede Probe auf das
Exempel kann zeigen, wie sehr diese Auffassung im Recht ist. Zwei Beispiele mögen es
zeigen. Obwohl Arrhenius die Entwicklung der Sonnensysteme aus einem gleichförmigen
Anfangszustande bekämpft, sieht er doch als selbstverständlich an, daß die Tier- und
Pflanzenwelt der Gegenwart aus den organisierten Staubteilchen, die seine Phantasie
vor unausdenklich langer Zeit auf die Erde binabregnen ließ, sich entwickelt habe. Der
Pbilisoph H. Bergson macht zur Voraussetzung seines genialen, vor kurzem erschienenen
Werks „Schöpferische Entwicklung“ die Entstehung aller Organismen aus kleinen un-
scheinbaren Anfängen im Laufe der Erdgeschichte, ohne die Berechtigung dieser Annahme
ernstlich zu erörtern. Und von wenigen Ausnahmen abgesehen, nimmt die biologische
Literatur der Gegenwart diese Entwicklung als sichergestellt und als Grundlage ihrer
Betrachtungen an.
Untersuchen wir nunmehr die erfahrungsmäßigen und die logischen Grund-
lagen der Entwicklungslehre. Dazu sei vorweg bemerkt, daß in den ersten drei Jahr-
zehnten nach Darwins Auftreten in Deutschland sich mehrfach ein kritikloser Dogmatismus
auf dem Gebiete der Abstammungstheorie geltend machte, während imletzten Menschenalter
eine besonnene und kritische Behandlung des Deszendenzproblems nach und nach zum
Durchbruch kam. Nur diese zweite Phase der deszendenztheoretischen Erörterungen und
Kämpfe soll bier berücksichtigt werden.
Folgende Gesichtspunkte kommen vor allem in Betracht.
Catsachen. 1. Die gesamte wissenschaftliche Erfahrung stimmt in dem Ergebnisse
— * überein, daß jeder Organismus, sei es eine mikroskopische Zelle, ein
Wirbeltier oder eine Blütenpflanze, von einem andern Organismus geboren wurde.
Kein einziger Fall einer elternlosen Entstehung von Lebewesen ist bekannt.
2. Die Teile oder Organe eines Lebewesens: Wurzel, Stengel, Blatt, Blütenteile;
Auge, Mund, Herz, Magen, Lunge, Nieren usw. haben einen meist deutlich erkennbaren
Autzen für den Organiemus, dem sie angehören; sie dienen der Erhaltung des Indivi-
duums oder der Art.
#S. Die in der Gegenwart lebenden Pflanzen und Tiere sind andre, als die aus
früheren Erdperioden durch ihre fossilen Reste bekannt gewordenen Arten. Große Haupt-
1) Man hat dabei an die geometrischen #riome zu denken, z. B. daß die kürzeste Verbindung
zweier Punkte die gerade Linie ist, daß parallele Linien sich nirgends schneiden, auch wenn man sie
endlos verlängert. Es sind dies Postulate unseres Verstandes, an deren Nichtigkeit niemand zweifelt,
obgleich sie nicht direkt beweisbar sind.
79* 1251