108 Allgemeine Naturwissenschaft; Botanik; Abstammungslehre. X. Buch.
gruppen von Organiemen, welche jetzt die Erde bevölkern, sind erst in den jüngeren For-
mationen aufgetreten, wie die plazentaren Säuger und die eigentlichen Blütenpflanzen
(Angiospermen). Dem steht die Tatsache gegenüber, daß andre lebende Typen des Tier-
reichs im wesentlichen unverändert, wenn auch in anderen Arten oder Gattungen, schon
in den ältesten Erdperioden, aus denen Versteinerungen bekannt geworden sind, vor-
kommen.
4. In der Gegenwart zeigt sich, daß die Kinder den Eltern, Großeltern usw. in allen
wesentlichen Merkmalen gleichen, sich aber in untergeordneten Merkmalen von ihnen
und untereinander unterscheiden; man braucht nur an menschliche Familien und Gene-
rationen zu denken.
5. Bei Tieren und Pflanzen der Gegenwart finden wir häufig verkümmerte
(rudimentäre) Organe, die tatsächlich für das Individuum keinen NRutzen abwerfen;
daneben fehlen bei gewissen Arten Organe, die bei ganz ähnlichen Arten vorkommen.
6. Die Individuen der höheren Tiere und Pflanzen entstehen im Innmern ihrer Eltern
als einfache Zellen (Keimzellen, Eier), aus denen durch Zellteilung und nachherige
Differenzierung der durch Teilung vermehrten Zellen sich der fertige fortpflanzungs-
fähige Organismus entwickelt. Diese Entwicklung durchläuft die embryonalen Stadien
meist ganz allmählich, doch können auch Sprünge in der Entwicklung vorkommen, wie
bei der Umwandlung der NRaupe in den Schmetterling.
Aus diesen empirischen Materialien baut sich die Abstammungslehre im deduktiven
Verfahren auf. HDabei verdienen folgende logische Stützen besonders hervorgehoben
zu werden.
Zunächst der Begriff der Verwandtschaft. Schon lange vor Herrschaft der Abstam-
mungslehre sagte man, die verschiedenen Arten und Gattungen der Doldengewächse,
Orchideen, Gräser, Lippenblütler; der Raubtiere, Nagetiere, Wiederkäuer, Singvögel,
Schwimmnpögel usw. seien untereinander verwandt, und man konstruierte für Gattungen,
Ordnungen, Klassen verschiedene Grade von Verwandtschaft. Hierbei wurde dieser Begriff
in idealem Sinne genommen, wie man von verwandten Baustilen, Tonarten, Wissen-
schaften usw. spricht. Dem idealen Verwandtschaftsbegriff steht der reale gegenüber,
wie er in menschlichen Familien, im Stammbaum eines Pferdes, eines Hundes uns
entgegentritt. Die Abstammungslehre fragt nun: sollte der klassifikatorischen Berwandt-
schaft des Sostems der Tiere und Pflanzen nicht eine wirkliche Blutsverwandtschaft ent-
sprechen? und sie sucht diese durch eine Reihe von Argumenten wahrscheinlich zu machen.
Schlasse. Dies Verfahren führt auf den Weg der Analogieschlüsse; die Analogie
— — wird hierbei vielfach sehr weitgehend in Anspruch genommen. Dezhalb
kommt es darauf an, welchen Grad von Beweiskraft man den Analogieschlüssen über-
haupt zugestehen will. Es gibt starre Gegner, die sagen, in der wahren, rein auf
Erfahrung sich gründenden Wissenschaft hätten Analogieschlüsse überhaupt keinen Platz.
Soweit gehen wenige, auch wenn es richtig sein dürfte, von der Wissenschaft zu fordern,
so wenig Analogieschlüsse wie möglich zuzulassen, und wo sie bestehen, daran zu arbeiten,
sie durch sicheres Wissen zu ersetzen. Interessant ist zu hören, welche Stellung ein so
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