X. Buch. Allgemeine Naturwissenschaft; Botanik; Abstammungslehre. 109
kritisch veranlagter Kopf wie Kant in seiner eingangs erwähnten Naturgeschichte des
Himmels dieser Prinzipienfrage gegenüber einnimmt. Er sagt dort: „.. wenn man
die Analogie zu Hilfe nimmt, welche uns allemal in solchen Fällen leiten muß, wo dem
Verstande der Faden der untrüglichen Beweise mangelt“. Das scheint ein kräftiger
Freibrief für die Methode der Analogie zu sein, und in der Tat würde die Natur-
wissenschaft der Gegenwart ein seltsames Aussehen gewinnen, wollte man alle Analogie-
schlüsse aus ihr verbamnen. Wohl ist die Beurteilung nach Analogie eine in die Form
eines logischen Schlusses gekleidete Handlung unsrer Phantasie; aber wer möchte
soweit gehen, auch der Phantasie eine Beteiligung am Aufbau der Wissenschaft zu
verwehren?
Oie wichtigste von der Deszendenztheorie vollzogene Analogie besteht darin, daß sie
den historischen Aufbau der Pflanzen- und Tierwelt von ihren ersten Anfängen
an dem entwicklungsgeschichtlichen Aufbau eines höheren Tierkörpers vergleicht, und
daß sie für ersteren eine analoge Entwicklung annimmt. Neben die erfahrungsmäßig
vor unsern Augen sich vollziehende Entwicklung der Indidviduen setzt sie daher eine
hopothetische Stammesentwicklung, wonach die Arten, Gattungen, Ordnungen, Klassen
der Tiere und Pflanzen sich in der Art eines Stammbaums genetisch aneinander
reihen sollen. Es fragt sich jetzt, durch welche Argumente diese Theorie gestützt
werden kann. ·
Der Naturforscher wird immer Beweise zu sehen wünschen. Aber exakte Beweise
für die Richtigkeit der Abstammungstheorie, Beweise, zu deren Anerkennung jedermann
logisch gezwungen werden kann, gibt es nicht. Wir müssen uns genügen lassen an einer,
diesem größer, jenem geringer scheinenden Zahl von Argumenten, die sich zu
einem Indizienbeweise mit einem gewissen Grade von Wahrscheinlichkeit
zusammenfügen lassen, die bald größer, bald weniger groß erscheint.
Exakte Beweise der Abstammungslehre würden nur auf zwei Gebieten liegen können,
auf dem der Paläontologie bzw. Erdgeschichte und auf dem der experimentellen Beo-
bachtung der lebenden Tiere und Pflanzen. Leider versagen aber beide Gebiete und
liefern nur mehr oder weniger wichtige Argumente.
Was die Paläontologie zugunsten der Abstammungslehre bedeutet, wurde
schon hervorgehoben, auch, daß dem andre beachtenswerte Tatsachen
gegenüberstehen. In der ältesten der neptunischen Formationen, dem Kambrium, gab es
noch keine Fische, also noch keine Wirbeltiere, die erst in der nächsten Formation, im Silur,
auftreten. Trotzdem lebten im Kambrium bereits andre hoch organisierte Tiere, wie
Bracchiopoden, Mollusken, Krebse, die Muskeln, Nerven und Sinnesorgane besaßen, ja, von
denen einzelne Gattungen (Lingula) sich unverändert bis in die Gegenwart erhalten haben.
Tiere, die als Vorfahren der Fische gedeutet werden könnten, kennt man aus dem Kam-
brium nicht. Unvermittelt wie die Fische im Silur, treten in den späteren Formationen
Ampbibien, Reptilien und Vögel auß, letztere im Zura, und hier durch den Archäopteryz
vertreten, einen merkwürdigen Vogeltyp, der verschiedene Merkmale der Eidechsen be-
sitzt und eine Andeutung dafür ist, daß die Bögel wohl aus eidechsenartigen Tieren hervor-
Bedenken.
1253